Über die großen Dramen in Corona-Zeiten informieren uns die Medien rund um die Uhr – doch auch im Kleinen, hinter verschlossenen Türen und Fenstern in der Nachbarschaft, sind Verzweiflung und Ratlosigkeit groß.Heute Vormittag musste ich die Scheiben meines Autos freikratzen, auf der anderen Straßenseite tritt ein Nachbar, den ich nur flüchtig kenne, in grauer Baumwolle-Jogginghose und dunkelblauem Kapuzenshirt vor die Tür, um drei gelbe Säcke in den vorgesehenen Holzschuppen abzulegen.
Wir grüßen uns, wie immer. Doch dann kommt er näher, ich kratze weiter. Wir siezen uns, tauschen Belanglosigkeiten aus – reden übers Wetter, die effektivste Eiskratztechnik, die derzeit apokalyptische Situation und seine ineffektive Arbeit im Homeoffice. Er sagt, dass er sich große Sorgen mache – eigentlich bin ich fertig mit Eiskratzen und will fahren. Obwohl ich nicht nachfrage, fängt er an zu erzählen. Er freue sich auf das erste Kind, das seine Frau in zwei bis drei Wochen auf die Welt bringen soll – er soll Paul heißen. Ich gratuliere.Doch er habe ein Problem – sein Auto sei seit vergangener Woche defekt, viele Werkstätten geschlossen oder ohne Ersatzteile. Er müsse warten, warten, warten. Zuletzt habe er seine Frau per Taxi, auf das sie lange gewartet hätten, ins Klinikum gebracht, weil sie Schmerzen hatte: „Es war falscher Alarm, aber ich durfte wegen Corona nicht mit zur Untersuchung.“ Seine Frau und er seien nun total verunsichert, dass er bei der Geburt nicht dabei sein könne. „Eine schlimme Vorstellung. Ich will mit in den Kreißsaal und bei meiner Frau liegen die Nerven blank“, sagt er und drückt seine Knie an den nassen Kotflügel meines Autos – auf der Jogginghose breiten sich schnell dunkle Wasserflecken aus. Er fragt, ob ich mich „kümmern“ könne – ich schüttele den Kopf „leider nicht.“ Er stützt sich mit beiden Händen auf der Motorhaube ab. Wir schweigen ohne Blickkontakt. Ich trete zur Seite und beobachte die Ausbreitung der Wasserflecken an der Jogginghose in Richtung seiner Oberschenkel.
Ersatzschlüssel im Briefkasten
Er unterbricht die Stille: „Ich habe Angst, dass wir es ohne Auto nicht ins Klinikum schaffen, wenn es soweit ist“, sagt er mit gesenktem Haupt. Er atmet tief durch und bedankt sich fürs Gespräch. Er sagt: „Ich bin Jonas“ und winkt. Ich winke zurück. Wir tauschen Mobilnummern aus, wenn einer mal was braucht oder so – er geht. Ich schaue ihm hinterher, die Wasserflecken haben sich fast über die gesamten Hosenbeine ausgebreitet. Ich fahre nicht, gehe nach Hause, suche und finde den Zweitschlüssel meines Wagens und werfe es in den Briefkasten von Jonas und Melanie. Ich schreibe ihm eine SMS – sie können, dass Auto im Notfall nutzen, wenn es an der Straße steht. Er bedankt sich mit einem Foto – darauf seine Frau samt gigantischem Bauch und er immer noch in Jogginghose, doch die Wasserflecken sind fast weg.