Die Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus fesselt viele an Heim und Herd – mich auch. Der eher monotone Alltag, trotz Buchlektüre sowie Telefonaten mit Freunden und Familienangehörigen, macht sich bei mir hin und wieder durch Kopfschmerzen bemerkbar. Auch an diesem Freitagvormittag. Ich entscheide mich für einen Spaziergang im benachbarten Palaisgarten. In „normalen“ Zeiten tummeln sich hier Menschen auf den Rasenflächen. Zu Reggaemusik balancieren Jugendliche auf Gummibändern, die sie zwischen Bäume spannen, fliegen bunte Frisbeescheiben durch die Luft und viele Detmolder „machen sich locker“ bei Grillwürstchen sowie legalen und illegalen Drogen. Und auf den Bänken, die rings ums Grün aufgereiht sind, sitzen Senioren und genießen die Klänge von Klavier, Oboe, Geige und Gesang – es sind Gratiskonzerte von Musikstudenten, die in der benachbarten Hochschule für ihre kommenden Auftritte in den Konzertsälen dieser Welt üben – in „normalen“ Zeiten. Doch an diesem Coronavormittag bin ich weit und breit der einzige Spaziergänger in der grünen Oase. Ich drehe meine Runde, atme tief ein und aus, massiere meine Schläfen, doch der pochende Schmerz will nach knapp 30 Minuten nicht aus meinem Kopf weichen. Auch eine zehnminütige Sitzpause bleibt erfolglos. Zurück in der Wohnung verabrede ich mich zum Kaffee – vielleicht hilft ja Koffein und Gesellschaft?
„Sind Sie Herr Kaminski?“
Ich vermisse mein Portemonnaie. Suche in Jackentaschen, unterm Sofa, im Bad und aus Verzweiflung schaue ich sogar in den Backofen – es ist unauffindbar. In meinem Kopf schwirren Gedanken an Sperrung der EC-Karte und zeitaufwendige Behördengänge, um neue Papiere zu beantragen. Doch zuvor will ich nochmals meine Runde im Park ablaufen und die Umgebung der Sitzgelegenheit inspizieren. Die Bank, auf der ich vor rund einer Stunde saß, ist von einer älteren Dame besetzt. In gebührendem Abstand frage ich, ob sie vielleicht eine schwarze Geldbörse gefunden hat. „Sind Sie Herr Kaminski?“, fragt sie zurück. „Kamisli“, antworte ich. Sie kramt kurz in ihrer schwarzen Lederhandtasche und reicht mir mein Portemonnaie. „Ich hätte Sie später von zu Hause anrufen, weil ich ihren Ausweis und die passende Visitenkarte in der Geldbörse gefunden habe. Ich habe kein Handy, sondern nur Festnetz“, sagt die Seniorin. Ich bedanke mich, nehme auf der Nachbarbank Platz und prüfe den Inhalt. Sie schaut rüber: „Ich habe nichts rausgenommen“, sagt sie und lächelt. Ich nicke: „Alles gut. Vielen Dank.“Die vielen Besucher des Palaisgartens seien auch Opfer des Coronavirus, wechselt sie das Thema. Ein Kopfschütteln. Ein langer Atemzug. Sie greift nach ihrem roten Schirm, der neben ihr auf der Bank liegt, und legt ihn quer über ihren Schoß. „Herr Kaminski, ich bin Erna Obergöker und liebe diesen Park“, sagt sie. Ich verzichte auf eine Namensberichtigung.
Musikgenuss im Park
Sie erzählt, dass sie 78 Jahre sei und gemeinsam mit ihrem Mann Johannes, der vor drei Jahren verstorben sei, fast jeden Samstag die Schönheit und die Atmosphäre des Palaisgartens genossen habe. „Zu jeder Jahreszeit waren wir hier und haben nach einem Spaziergang genau auf dieser Bank, sie schlägt mit der flachen Hand auf die Holzsitzfläche, gesessen und uns von den musikalischen Kunstwerken der Studenten verzaubern lassen“, sagt sie. Diese Tradition habe sie auch nach dem Tod ihres Liebsten fortgeführt. Doch seit mehreren Wochen habe sie ihre Wohnung in der Innenstadt nur noch zum Supermarktbesuch verlassen. Sie lebe alleine, ihre Kinder samt Enkel in Hamburg und Dortmund. „Ich würde sie wieder so gerne in die Arme schließen, aber wir können derzeit nur telefonieren“, sagt die Rentnerin, holt ein weißes Stofftaschentuch aus der Tasche ihres roten Wollmantels und streicht damit über die Nase. „Angst und Einsamkeit sind die schlimmsten Folgen der Coronakrise, doch heute war meine Sehsucht nach dem Park einfach größer. Ich habe die Bedenken beiseite geschoben und bin hierher“, fügt sie hinzu, blickt in den grauen Himmel und zupft an ihrem rot-orangefarbenen Schal, der ganz ordentlich im Ausschnitt ihres Mantels steckt. „Spielen Sie ein Instrument?“, fragt sie mich. Ich schüttele den Kopf. Ihr „Johann“ sei zwar Finanzbeamter gewesen, aber seine Leidenschaft habe dem Klavierspiel gegolten. „Er konnte vor allem ein Stück von Claude Debussy perfekt spielen – kennen Sie Debussy und mögen Sie überhaupt klassische Musik?“, fragt sie. Ich muss die vielen Fragen in meinem schmerzenden Kopf sortieren. Nach einigen Sekunden samt Kurzgriff an die Schläfe antworte ich: „Ich war mal in Rheingold von Richard Wagner…“ Sie unterbricht mich – Wagner sei auch gut, aber nur halb so romantisch wie Debussy.
Wagner ist nur halb so romantisch wie Debussy
Das Klavierstück „Clair De Lune“ habe ihr „Johann“ während der Vermählung 1962 gespielt und anschließend an jedem Hochzeitstag im Mai – bis kurz von seinem Ableben 2017. „Jetzt wollte ich im Mai zu einem Debussy-Konzert nach Hamburg, aber das wir wohl ausfallen“, sagt die 78-Jährige. Pause – die folgenden Schweigesekunden überbrückt sie mit einer Handbewegung, die ins Leere geht. „Sie müssen doch bestimmt schon weg?“, fragt sie und wirft ein gequältes Lächeln in meine Richtung. Ich antworte: „Gleich.“ Ohne Blickkontakt zu ihr, greife ich nach meinem Handy, gehe auf YouTube und gebe Debussy ein. Es erscheint „Clair De Lune“ – ich drücke auf „Play“, schalte den Lautsprecher ein und lege das Mobiltelefon zwischen uns. Sie lehnt sich zurück, schließt die Augen und lächelt.Ich mache es ihr nach – das Klavierspiel ist wunderbar, wie eine wärmende Decke, die sich an diesem tristen Freitagvormittag über mich legt. Nach gut fünf Minuten ertönt der letzte Klang aus den Lautsprechern. Ich öffne meine Augen, die Sonne hat sich ein wenig durch die grauen Wolken gekämpft. Ich blinzele mit einem Lächeln im Gesicht. „Es hat Ihnen offensichtlich auch gefallen“, sagt sie und erwidert mein Lächeln. „Ja, sehr schön“, antworte ich. Doch jetzt muss ich zu meiner Kaffeeverabredung. Ich stehe auf und verabschiede mich. „Vielen Dank, Herr Kamisli. Der Besuch des Palaisgartens hat sich wieder gelohnt“, sagt sie und winkt mir mit ihrem roten Schirm nach. Kurz vor dem Parkausgang merke ich, dass meine Kopfschmerzen verflogen sind.
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