Das quälende Doppelleben in der türkischen Gemeinde

Es ist Ramadan – der muslimische Fastenmonat steht in diesem Jahr unter besonderen Vorzeichen – keine Moscheebesuche, keine gemeinsamen Gebete und kein Fastenbrechen im Kreise von Freunden und Familie. Vom 23.April bis 23. Mai verzichten die Gläubigen von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang auf Speis und Trank.
Für mich ist das nichts, aber ich freue mich auf den Beginn der Fastenzeit, denn dann gibt es in den türkischen Lebensmittelgeschäften eine riesige Auswahl von süßen Geleewürfeln „Lokum“, die das abendliche Fastenbrechen versüßen sollen. Ich liebe dieses süße Abtauchen in die Kindheit und nehme im Laden an der Lemgoerstrasse gleich zwei Portionen. Ich stehe an der Kasse. Plötzlich ein Fingerklopfen auf meine Schulter. Ich drehe mich um – vor mir steht ein Mann mit Wassermelone im Arm. Mund und Nase sind hinter einer Maske versteckt, auf der das Wappen des Fußballvereins Fenerbahce Istanbul gestickt ist. Er fragt, ob ich ihn erkenne? „Witzig“, antworte ich. Seine freie Hand zupft die Bedeckung runter, dahinter erkenne ich Murat, der in Wirklichkeit anders heißt. Ich habe ihn zuletzt vor knapp sieben Jahren gesehen – es war auf seiner Hochzeitsfeier in Bielefeld. Vor der Tür fragt er nach Familie, Geschwistern und gemeinsamen Bekannten in Detmold. Ich erkundige mich nach seiner Frau, nach seinem Job und dem Eigenheim – seine Antwort: „Weg, weg, weg.“ Ich bin etwas irritiert. Ist das wirklich Murat, der aus diesem ultrakonservativen türkischen Elternhaus stammt? Der regelmäßig in die Moschee, den Korankurs musste und dessen Schwester im Alter von 14 Jahren ein Kopftuch aufgezwungen wurde.

„Alles Lug und Trug. Ich bin schwul“

Er klemmt die Wassermelone unter seinen Arm, kratzt sich an der Stirn und sagt: „Ich lebe jetzt mit Mirko in Detmold. Wenn Du willst, kannste morgen zum Tee vorbeikommen. Bin in Kurzarbeit.“ Mirko heißt in Wirklichkeit auch anders.
Am Klingelschild des Mehrfamilienhauses steht nur Murats Name. Er teilt sich die Dreizimmerwohnung seit zwei Jahren mit seinem Partner Mirko, sagt er. Ich antworte mit einem: „Aha, aber du warst doch mal mit einer Frau verheiratet…“ „Alles Lug und Trug. Ich bin schwul“, unterbricht er mich und winkt mich in die Küche.
Ich setze mich an den Tisch, auf dem ein silberfarbener Teekocher und drei kleine Teegläser stehen. Ich deute auf das dritte Glas. „Das ist für Mirko, der kommt bald vom Laufen“, sagt Mirko.

Familie betrachtet Homosexualität als Schande

Er greift nach dem Teeglas samt Untersetzer und stellt sich ans Fenster. Sein Redebedarf scheint groß – er redet und redet. Murat ist schwul, gläubiger Muslim, und seine gesamte Verwandtschaft in Bielefeld denkt, dass er ein „normales“ Leben führt. „Als mein Bruder vor drei Wochen einen Überraschungsbesuch ankündigte, mussten wir schnell Mirkos Sachen verstecken und er besuchte spontan Freunde“, sagt Murat. Er wolle auf keinen Fall, dass sein Vater und die vier Geschwister erfahren, dass er einen Mann liebe und mit ihm zusammenlebe. Denn Homosexualität betrachte seine Familie als Schande.
Vor acht Jahren erkrankte seine Mutter an Krebs und er musste ihr versprechen, dass er heirate, bevor sie unter der Erde ist. „Diesen Wunsch habe ich ihr erfüllt, obwohl ich keine Freundin hatte“, erinnert sich Murat. Also wurde im anatolischen Heimatdorf eine Hochzeit arrangiert, die Frau per Flieger nach Deutschland importiert und eine große Feier für Bekannte, Freunde und Verwandte in Bielefeld organisiert. Kurze Zeit später starb die Mutter. „Zum Glück, denn dadurch wurde ihr das dreijährige Elend dieser Scheinehe erspart“, sagt der 38-Jährige.

Scheinfrau sollte Heterosexualität vortäuschen

Schließlich wollte der Vater dem „Unglück“ nicht mehr zusehen und stimmte einer Trennung zu. Unterordnen war Alltag für Murat – alles lief nach dem Willen des Vaters. „Sein Wort war und ist Gesetz, das hat er früher auch Schlägen durchgesetzt“, sagt Murat. Seine „Scheinfrau“ habe inzwischen ihr Glück gefunden und schon zweifache Mutter. Irgendwann habe er sie mit ihren Kindern getroffen und sich entschuldigt. Sie habe gesagt, dass sie ihm vergeben habe.
Er dreht sich zu mir und setzt sich an den Tisch. „Ich habe früh gemerkt, dass ich mich zu Männern hingezogen fühle und mich gegen mein Begehren gewehrt“, sagt Murat. Im Alter von 18 habe er auf der Abiparty – unter dem Deckmantel des Alkohols – einen Mitschüler geküsst. Während seines Informatikstudiums habe er ein paar Affären gehabt. Seine Tarnung habe er mit der Zeit perfektioniert – ein zweites Handy, Treffen mit Männern nur außerhalb Bielefelds und sogar bezahlte Frauen, die ihn zu Familienfeiern begleiteten. „Ich hatte Ruhe und mein Vater konnte vor aller Welt mit mir angeben, weil ich als erster in der Familie ein Studium beendet hatte“, erinnert sich Murat.

Homosexualität wird als Krankheit angesehen

Doch das quälende Doppelleben habe ihn auf Dauer viel Kraft und Lebensmut gekostet, aber er sei ein gläubiger Mensch und lehne einen Freitod ab. „Ich habe psychologische Hilfe gesucht, um die Lügen und seelischen Krisen zu überstehen.“
Mit seiner Familie habe er nie über seine Ängste und Zerrissenheit gesprochen. „Die denken das Homosexualität eine Krankheit ist und würden mich zum Imam bringen, damit er mich mit Koranversen heilt“, glaubt Murat. An vorderster Front sein Vater, der auch im Alter von 80 Jahren keine Milde versprühe.

„In türkischen Familien geht es um Männlichkeit, Ehre, Stärke und Respekt“

Ob das Familienoberhaupt wirklich nicht ahnt, dass Murat schwul ist?, frage ich. Er zuckt mit den Schultern. „Wenn bekannt wird, dass sein Sohn schwul ist, dann hätte er als Vater und Mann versagt“, antwortet Murat. In vielen türkische Familien gehe es um Männlichkeit, um Ehre, Stärke und Respekt. Homosexuell zu sein, bedeute diesem Bild nicht zu entsprechen. Glaubt er nicht, dass sein Vater ihn irgendwann einmal als schwulen Sohn akzeptieren könnte? „Nein, nie“, sagt er kopfschüttelnd.
Im Türschloss knackt der Schlüssel. Ich höre einen schnaufenden Mann. Er stellt sich als Mirko vor, geht um den Tisch und küsst Murat auf die Wange. Murat gießt ihm Tee ein. „Schön, dass wir uns mal kennenlernen“, sagt Mirko. „Erol, Du bist der erste Kumpel von Murat aus Detmold, den ich mal persönlich treffe“, sagt Mirko. Er will weiter sprechen, doch Murat geht dazwischen: „Mirko hat vor paar Wochen den Wunsch geäußert, dass er endlich mein Umfeld kennenlernen möchte und meine erste Wahl ist auf Dich gefallen.“ Ich hole tief Luft und will gerade erzählen, dass wir uns gestern zufällig im Supermarkt getroffen haben, da unterbricht mich Murat: „Vielleicht noch lecker Tee?“ Bevor ich was sagen kann, plätschert er ins Glas.
„Sein Tee ist wirklich gut – ich genieße ihn seit vier Jahren“, sagt Mirko und greift über den Tisch nach der Murats Hand.

Die große Angst vor der Entdeckung

Die beiden lernten sich vor vier Jahren auf einem Informatiker-Kongress kennen und lieben. 2018 geben sie ihre Wohnungen in Hannover und Bielefeld auf, entscheiden sich für eine gemeinsames „Nest“, wie es Mikro nennt, in Detmold, weil Murat in der Nähe seiner Familie bleiben möchte. „Aber es ist nicht immer so einfach“, sagt Mirko. Er habe keine Lust mehr auf kurzfristige „Verstecke“ bei Freunden, wenn Murats Familie spontan zu Besuch käme. Er wolle nicht mehr getrennt aus dem Haus, nur weil Murat „Angst vor Entdeckung“ habe, als ob ihre Beziehung etwas verbotenes oder illegales wäre. Murat hört mit verschränkten Armen zu. „Ich kann die Meinung seines türkischen Umfeldes nicht verstehen, aber die Einstellung auch nicht verurteilen“, sagt Mirko.
Denn Homosexualität werde auch in der deutschen Gesellschaft immer noch tabuisiert, „sonst hätten wir schon viel mehr Fußballer, Manager oder Politiker, die sich öffentlich zu ihrer Homosexualität bekennen und über kulturelle Grenzen hinweg, als Vorbilder dienen können“, sagt Mirko. Er habe alle Versteckspiele, Beleidigungen und Ausgrenzungen – auch innerhalb seiner Familie – schmerzvoll erlebt. Seine Eltern akzeptierteren ihn inzwischen so wie er sei und auch Murat. Auf eine Akzeptanz von Murats Familie müsse er vergeblich warten, aber die Liebe sei stärker als Hass, Intoleranz und Unkenntnis, sagt Mirko und wirft Murat einen Kuss zu. „Hab‘ ihn gefangen“, sagt Murat und drückt die Finger an seine Lippen.

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