In diesen merkwürdigen Zeiten wird auch das Kopieren von Unterlagen zu einer Herausforderung. Der einzige Copy-Shop in der Innenstadt hat geschlossen. Ich bitte in Drogerien, Bäckereien und Apotheken um „Kopierasyl“ für meine 13 Seiten – doch überall nur Kopfschütteln. Nach knapp halbstündiger Absagenflut stelle ich meine verbalen Bittgesuche, die einen immer flehentlicheren Unterton bekommen, ein und bestelle am Kiosk ein „Kaffee to go“. Während ich vor der Plexiglaswand warte, überlege ich wer in meinem Freundes- und Bekanntenkreis einen Kopierer besitzen könnte – die Verkäuferin schiebt eine Edelstahlschüssel mit der Aufschrift „Geld“ durch die Öffnung der Kunststoffwand. Ich lege zwei Münzen rein und sie schiebt den Kaffee durch die Luke in meine Richtung. Ich frage – ein letztes Mal – nach einem Kopierer. „Der ist seit Wochen kaputt, aber versuchen Sie es doch mal im Afro-Shop an der Paulinenstraße“, sagt sie und legt das Restgeld in die Schüssel. Ich lasse es zurück und bedanke mich für den Tipp.
Rastazöpfe und ein buntes Angebot
Schon von weitem leuchten die bunten Lettern am Schaufenster des Afro-Shops: „Lebensmittel, Kosmetik, Kopieren, Internet, Callshop.“ Trotz der auffälligen Beschriftung war der Laden in der Vergangenheit völlig unsichtbar für mich. Im engen Eingangsbereich lehnt ein junger Mann an der Wand. Seine langen Rastazöpfe hängen unter einer schwarzen Wollmütze, die mit roten, grünen und gelben Zickzack-Mustern verziert sind. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt seinem Handy, das er immer wieder mit beiden Daumen streichelt. Doch irgendwie scheint er mich wahrgenommen zu haben. Mit gesenktem Blick fährt er seine linke Hand aus, drückt die Ladentür auf und ruft: „Victoire, Kundschaft.“ Ich bedanke mich und trete ein. Victoire steht hinter der Kasse und nickt mir stumm zu. Es fehlen die derzeit obligatorischen Abstandsaufkleber auf dem Boden. Auch auf eine durchsichtige Plastikwand an der Kasse sowie Mundschutz und Handschuhe verzichtet Victoire. Ihre Haare hat sie zu unzähligen, glänzenden Miniantennen geformt, die mich an das Bild des Coronavirus erinnern, das jeden Tag über die Bildschirme flimmert. Ich frage mich, ob es Protest ist oder warum sie derzeit so rumläuft? „Ihre Haare erinnern mich…“ – weiter komme ich nicht. „Ich kenne alle Sprüche zu meiner Frisur. Was kann ich für Sie tun?“, sagt sie mit hochgezogenen Augenbrauen und wirft einen Blick aufs piepende Handy, das neben der Kasse liegt. Ich trete einen Schritt zurück und frage nach dem Kopierer.
Tischkopierer und Whitney Housten
Sie dreht sich zur Seite und gibt den Blick auf einen Tischkopierer frei, der im Regal steht – eingerahmt von einer Schneekugel mit Weihnachtsmann und dem abgebrochenen Unterarm einer Schaufensterpuppe, der nun als Halter für bunte Holzarmreifen herhalten muss. „Ich mach‘ das. 10 Cent pro Kopie“, sagt sie kurz und knapp. Ich reiche ihr meine Unterlagen. Sie dreht sich zum Kopierer.Im Hintergrund läuft „I wanna dance with somebody“ von Whitney Housten – die Lautsprecher schnarren immer mal wieder bei den hohen Tönen, doch das scheint Victoire nicht zu stören – sie summt mit, wackelt mit dem Kopf, dabei werfen ihre unbeweglichen Antennenzöpfe dunkle, tanzende Punkte an die weiße Wand. Sie öffnet den Deckel des Kopierers, wischt mit einem trockenen Küchentuch über die Glasfläche, legt ein Blatt drauf, schließt die Klappe und drückt mit ihrem Daumen auf den grünen Startknopf, ein Lichtstrahl fährt von links nach rechts. Während ich die Monotonie des Kopierens beobachte, fällt mein Blick auf einen riesigen Karton mit Kochbananen – ich erzähle ihr von meinem Kumpel Jo aus Kamerun, der unglaubliche Leckereien aus der Frucht zaubert. Sie nickt, streckt ihren linken Arm mit erhobenem Daumen zur Seite aus, kein Blickkontakt. „Doch Jo ist nicht nur ein toller Koch, sondern hat auch eine Nichte und einen Neffen mit sehr ungewöhnlichen Namen“, füge ich hinzu. „Vielleicht Pandemie und Covid?“, fragt sie und deutet mit ihrem Zeigefinger auf ihren Kopf.
Kinder heißen Merkel und Obama
Ich muss lachen. „Nein, die Eltern haben die beiden Merkel und Obama genannt“, antworte ich. Sie zuckt mit den Schultern: „Na und – ich kenne viele Obamas.“ Das Handy neben der Kasse klingelt – sie geht ran. Ich verstehe nur „Bonjour“ und schaue mich im Laden um – neben Auberginen, Gurken, Quitten und Äpfeln in Holzkisten sind mehrere braune Säcke aufgestapelt, auf denen in schwarzer Farbe die Zahl 25 und zwei Bohnen gedruckt sind. Auf der anderen Seite des rund 30 Quadratmeter großen Verkaufsraums steht ein riesiges Regal – Farbe undefinierbar – mit unzähligen Fächern, die mit hochhackigen, schwarzen Stiefeln, Thunfisch in Dosen, Haarwachs in Plastiktuben sowie Pinzetten, Scheren und Kopfkissen vollgestopft sind. Doch in den meisten Regalfächern stehen Styroporköpfe, die mit Perücken in allen Farben, Längen und Formen verziert sind.
Perücken sind leicht entzündlich
Ich trete etwas näher an die Dekoköpfe, die schon etwas mitgenommen aussehen – bei einigen sind Stücke der Nase und Ohren abgebrochen, die Lippen aufgeplatzt und auch die blaue Augenfarbe, die nach eigener Pinselarbeit aussieht, bröckelt schon. Ich schau nach dem Preis der Perücken, finde nur ein Ettiket mit der Aufschrift: „Keep away from fire“. Plötzlich geht die Tür: „Bonjour, Victoire. Neue Ware“, ruft eine männliche Stimme. Bevor ich mich umdrehen kann, ist der Mann schon im hinteren Raum verschwunden- ich erkenne nur noch bunte Plastiktüten, die er unter seine Arme geklemmt hat. Durch den Luftzug sind die Folien, die von der Decke baumeln, in Bewegung geraten. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und erkenne blonde, grüne, rote und auch geflochtene Haarteile in Plastikverpackungen, auf denen die Zahlen 50, 70, 90 in roter Farbe leuchten – ich kann nur noch die Worte „leicht entzündlich und made in China“ entziffern – eine Preisangabe fehlt. „Hallo, die Kopien sind fertig“, ruft Victoire und wedelt mit den Blättern. Ich trete näher an die Kasse und frage nach der Kundschaft, die die Perücken und Haarteile im Afro-Shop kauft. „Das sind Extensions“, verbessert sie mich. Vor allem afrikanische Frauen kauften die künstliche Haarpracht, um endlich ihre Traumfrisur zu tragen. Mit den Extensions könnten Frauen je nach Laune ihren Look verändern und sogar Hochsteckfrisuren kreieren. „Und wie ist Ihre Laune?“, frage ich und Blicke auf die Miniantennen auf ihrem Kopf. „Die Frisur hatte ich schon vor Corona. Die gefällt mir, meinem Freund und meinen Kindern. Ich lasse mir von dem Virus nicht auch noch meinen Look diktieren, weil es unter dem Mikroskop meiner Frisur ähnelt“, sagt sie und muss lächeln.Corona stelle das Leben der Menschen auf den Kopf – viele ihrer afrikanischen Freunde seien in Kurzarbeit, lebten mit viel zu vielen Menschen in viel zu engen Räumen – das Virus mache den Menschen Angst von außen und von innen. „Viele sind überfordert, werden depressiv, laut oder auch gewalttätig.“ Neben diesem Stress sorgten sich viele Afrikaner um ihre Angehörigen in den Heimatländern. Dort kämpften die Menschen nicht erst seit der Pandemie ums nackte Überleben. „Wie sollen die Menschen zwei Meter Abstand halten, wenn zehn Personen in einem Raum leben?“, fragt sie und blickt mich an. Ihre großen Augen verengen sich, ihre Unterlippe zittert, die Stimme bricht. Ihr Handy piept, sie greift danach und dreht sich um. Ich krame in meiner Hosentasche nach 1,30 Euro. Die Tür geht auf, eine Stimme ruft: „Victoire, sind die endlich da?“ Es ist der junge Mann mit dem gesenktem Blick und den Rastazöpfen. Sie werde gleich nachschauen, die Lieferung sei erst vor zwei Minuten gekommen, antwortet sie und dreht sich zu mir. „Das ist Didier, der wartet seit Stunden auf neue Extensions, obwohl die eigentlich für Frauen sind. Er will eine neue Frisur ausprobieren, damit sich die Tage nicht immer gleich anfühlen. Jeder hat halt seine eigene Methoden, um in diesen Zeiten zu überleben“ sagt sie schulterzuckend. Ich zahle, packe meine Unterlagen zusammen und verabschiede mich. Didier hält mir die Tür auf – ich bedanke mich und wünsche ihm alles Gute.
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