Das Leben an der Flasche

Wie auf Kommando rutschen die Blicke gen Boden. Die Fußgänger an roten Ampel stöhnen innerlich auf. „Bitte entschuldigen Sie die Störung, ich heiße Norbert, bin 38 und obdachlos…“ Der Mann erzählt in Sekunden von seinem Elend: Seit sechs Monaten ohne festen Wohnsitz, kein Geld, dafür aber eine schwerkranke Freundin, die dringend Medikamente braucht…- vorschriftsmäßig mit Mundschutz. Schon mit einem Euro kommt man davon. Auch 50 Cent reichen, und Norbert zieht weiter. Endlich wird’s grün. Auf der anderen Straßenseite, vor dem Supermarkt, wartet die nächste ausgestreckte Hand. „Kannste Du Cola für meinen Krebssohn mitbringen?“, fragt mich eine Frau in gebrochenem Deutsch. Sie streckt mir einen Zettel entgegen, auf dem das Wort „Hilfe“ steht, und schaut mich traurig, flehentlich an. Mit einem: „Ich schau‘ mal“, rette ich mich in den Markt. Sie wirft mir noch ein „ich warte an Bushaltestelle“ hinterher. Ich kaufe Tomaten, Äpfel, Brot, Käse und Salami – mache dann auch einen Abstecher zu den Softdrinks und greife nach einer Cola. Vor der Tür wartet die Frau mit dem traurigen Blick – sie lacht, als ich die Flasche aus der Einkaufstasche ziehe. „Danke, Gott wird es danken“, sagt sie, zieht ihre gelbe Maske auf und verschwindet im Bus, der an der Haltestelle wartet.

„Hoffe auf ein Wunder der Liebe“

Ich überquere die Straße, dort spricht mich Norbert – diesmal ohne Mundschutz – an. „Du hast meiner Bekannten eine Cola spendiert, hast Du auch ein paar Cent für mich übrig?“, fragt er. Ich verneine und trete einen Schritt zur Seite, damit seine Alkoholfahne mich nicht mit voller Wucht trifft. Dann reißt meine Papier-Einkaufstüte. Ich fluche – er kniet sich sofort hin, formt sein Shirt zu einem provisorischen Korb, sammelt Äpfel und Tomaten auf, bevor sie unter die Räder der nahenden Autos rollen. Ich hebe den Rest auf. Wir setzen uns auf die Bank, er bietet mir ein Bier an – ich schüttle den Kopf. Er legt das Obst und Gemüse auf meinen Schoß, kramt in seinem Rucksack und zieht mit einem Lächeln eine Plastiktüte heraus – hält sie auf, damit ich meinen Einkauf reinlegen kann. „Die Tomaten riechen unglaublich, als wären sie frisch vom Strauch“, sagt Norbert. Er sei gelernter Koch und kenne sich aus. Dann erzählt er von seiner Freundin, die gar nicht krank sei, sondern ihn wegen seiner „Sauferei“ rausgeschmissen habe. Anschließend sei er zu seinen Eltern, doch auch sie hätten ihn nach kurzer Zeit wegen Wodka, Bier und Likör vor die Tür gesetzt. „Ich bin vor sechs Monaten nach Bielefeld, doch seit zwei Wochen wieder zurück in Detmold, weil ich hoffe“, sagt er. „Worauf?“, frage ich. „Auf ein Wunder der Liebe“, sagt er, schraubt die Kräuterlikörflasche auf und nimmt einen Schluck. Er laufe täglich an der Wohnung der Freundin vorbei – klingele, klopfe und rufe, doch sie öffne die Tür nicht. „Ich möchte mich ihr noch einmal erklären, meine Liebe gestehen, damit sie mir vergibt“, sagt Norbert. Seine Mutter habe ihm verziehen: „Wenn mein Vater bei der Arbeit ist, darf ich zu ihr. Dann gibt’s warmes Essen, eine Dusche und sie steckt mir beim Abschied auch etwas zu.“ Doch über Nacht dürfe er nicht bleiben, die verbringe er derzeit im Schlafsack unter freiem Himmel auf irgendeiner Parkbank. Am nächsten Morgen sitzt er dann wieder in der Fußgängerzone oder steht an der Ampel vor dem Supermarkt und spricht Passanten an, damit sein Leid ein bisschen Kleingeld abwirft. „Doch ich darf die Menschen nicht zu aggressiv ansprechen, sonst gibt’s einen Platzverweis von Polizei und Ordnungsamt“, sagt Norbert und fragt nach einer Tomate. Ich lasse ihm die Tüte mit meinen Einkäufen und gehe erneut in den Supermarkt. Auf dem Rückweg liegt Norbert auf der Parkbank, beißt genüsslich in eine Tomate und winkt mir mit der Likörflasche zu.
Foto: Kamisli

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