Vor meiner Haustür treffe ich Ernst Langhans* – ich kenne ihn, weil er regelmäßig die Mülltonnen an die Straße stellt und dabei mal mein Auto mit den Tonnen „umzingelt“ hatte, weil es etwas schief auf dem Bürgersteig stand. Jetzt zieht er weg und hat Stress. Sein neues Appartement in einer Seniorenunterkunft bei Lübeck kann er wegen Coronaumbauten noch nicht beziehen und hier muss er raus, da sein Vermieter die Wohnung schon anderweitig vermietet hat. „Nun droht mir der hiesige Hausbesitzer mit Zwangsräumung, weil ich zum 31. Mai gekündigt hatte“, sagt der 79-Jährige und zupft an seiner Maske herum. Er lädt mich Kaffee ein und fragt, ob ich mich „kümmern“ könne – ich schüttele den Kopf und nehme seine Einladung an.Sieht man den 79-Jährigen da für einen Moment verloren im Schlafzimmer zwischen den Umzugskartons, Ordnern und Fotoalben sitzen, dann wird das Herz etwas schwer. Ein alter Mann löst seine Wohnung auf und zieht ein letztes Mal um. Aber es sieht schlimmer aus, als er sich fühlt. Er zieht die Maske ab, steckt sie in die Hosentasche und lächelt. Er muss sich nur immer kurz setzen, weil die Hüfte schmerzt. Er greift nach zwei Shorts aus einem Umzugskarton und hält sie sich freudig an die schmerzenden Hüften. „Die hab‘ ich mir gekauft. Das wird ein schöner Sommer. Ich will an die Ostsee – das Wasser und den Strand genießen.“Von Detmold zieht es ihn in die Nähe von Lübeck, weg aus seiner Heimatstadt, in der er seine 79 Lebensjahre größtenteils verbracht hat, hin zu seinen Töchtern und Enkeln.
Wohnung gegen Platz im Seniorenheim
Aus einer Zweizimmerwohnung unterm Dach geht’s in ein ebenerdiges Appartement. Er sei Zeit seines Berufslebens immer fit gewesen und habe viel gearbeitet. „Nachts um fünf bin ich angefangen, bis nachmittags halb fünf. Ich war fleißig!“ Mit Leib und Seele Elektriker – 47 Jahre blieb er in der Firma und die verhalf ihm zu Wohlstand und einem eigenen Heim. Seine Frau Inge* lernte er mit 21 Jahren kennen, sie sahen sich „wenn´s passte“, eines Tages sagte sie zu ihm: „Wenn Du mir ein süßes Kind machst, heirate ich Dich.“ Er lächelt. Sie bekamen zwei Mädchen. Inge starb mit 69 an Krebs. Das war 2012. Er verkaufte das Haus, das Geld kam aufs Sparkonto und er zog in die Dachgeschosswohnung – 490 Euro Warmmiete für 50 Quadratmeter, davon werden zwanzig Euro abgezogen fürs Tonnen rausstellen. Jetzt muss er für knapp 25 Quadratmeter in der Seniorenunterkunft monatlich einen vierstelligen Betrag zahlen plus Hilfe, wenn er sie braucht – betreutes Wohnen. „Ich war nie krank“, sagt er, „bis ins Rentenalter.“ Dann kam der Krebs, Operation, „20 Zentimeter Dickdarm weg“, vier Jahre später die Hüfte „neues Gelenk“. Und vor zwei Jahren die Nieren. Seither muss er zur Dialyse. „Manche vertragen das schlecht, ich kann’s gut ab“. Im vergangenen Herbst ist er „öfter mal“ umgekippt. „Ich habe mir aber nie etwas gebrochen, hab‘ wohl einen Schutzengel.“ Die Töchter wollen das Glück nicht überstrapazieren, und so kam die Senioreneinrichtung im Norden ins Spiel. „Die Mädels wollten, dass ich zwei Wochen zur Probe wohne, aber ich habe gesagt, ich mach das eine Woche und dann weiß ich es.“ Gleich beim Frühstück lernte er einen Piloten kennen, Luftfracht, bewegtes Leben. „Der freut sich, wenn ich komme.“ Auch das half bei der Entscheidung im vergangenen Winter.Leid tut es ihm um die Möbel in seiner Wohnung, 1400 Mark kostete der Tisch, 13.000 Mark die Schrankwand und der Sekretär voller Fotos, es muss vieles weg: „Das neue Zimmer ist möbliert und zum Glück kann ich mich leicht trennen.“Werden Sie Freunde oder Bekannte nicht vermissen? „Ich bin bei meinen Arbeitszeiten immer abends nach der Tagesschau ins Bett gefallen, da gibt es nicht so viele.“
„Ich werde im Sarg nach Lippe zurückkommen“
Er verlasse Lippe mit einem guten Gefühl und werde im Sarg zurückkommen. „Der Platz auf dem Friedhof, neben meiner Frau, ist reserviert und bezahlt.“Außer mit dem Piloten ist er schon mit ein paar anderen Bewohnern der 22 Seniorenzimmer ins Gespräch gekommen. „Wir wollen gemeinsam was unternehmen – vielleicht eine Busfahrt an die Ostsee, wenn dieser Virus die Pläne nicht durchkreuzt.“Muss er sich gar nicht an die veränderten Lebensumstände gewöhnen? „Eigentlich nicht“, sagt er. „Das ist ein neuer Lebensabschnitt, da mach‘ ich nicht viel Gerede drum, da mach‘ ich alles mit.“ Er sei nicht der erste und letzte Mensch, der aus einem selbstbestimmten Leben den Weg in die Obhut eines Heims antrete. „Ich kann nur hoffen, dass die Mitarbeiter dort einem mit Verständnis und Respekt begegnen. Aber ich habe ein gutes Gefühl.“
Keine Angst vor dem Tod
Zwei Verwandte, so in seinem Alter, seien viel schlechter dran. „Sie haben Demenz und sind pflegebedürftig. Mir tun die echt leid“, sagt er. „Ich bin sehr mitfühlend, das mag ich mir gar nicht angucken, da kommen mir die Tränen.“Mit seinem Leben ist der Detmolder „bisher eigentlich ganz zufrieden.“ Angst vor dem Tod hat er nicht. „Ich bin ein wenig neugierig darauf und freue mich auf meine Frau.“ Aber nun ist erst mal Lübeck dran. „Da steht das Holstentor und es soll ja auch ein Theater-Figuren-Museum geben.“ Und zwei der vier Enkel haben im Juli und August Geburtstag. Sie werden zehn und zwölf. Das will er feiern. Zum Abschied reicht er mir einen Zettel mit der Rufnummer des Hausbesitzers: „Mit mir redet er nicht mehr. Ich will nicht im Streit meine Heimat verlassen, wenn sie trotzdem helfen wollen, der Vermieter liest ihre Geschichten auch sehr gerne.“ Zuhause greife ich zum Handy und wähle die Nummer. Nach langem Hin und Her – macht der Vermieter ein großzügiges Angebot: Er zieht die Räumungsklage zurück und will auch nur 100 Euro Miete, wenn Herr Langhans bis zum 20. Juni auszieht. „Vielen Dank – ich bin einverstanden, wenn bis dahin mein neues Obdach nicht bezugsfertig ist, komme ich paar Tage bei meiner Tochter unter“, sagt Langhans, obwohl er ungern seine Unabhängigkeit aufgebe.
*Namen geändert
Symbolfoto: Bernhard Preuss