Integration in der fremden Heimat

Ich bin beim türkischen Bäcker, weil mich der Hunger nach einem Simit – Sesamring – packt. Die Verkäuferin sagt, dass ich gleich mehrere nehmen soll, da die Ringe ganz frisch seien – alles in türkischer Sprache. Ich habe keine Lust meine verschütteten Türkischkenntnisse hinter der Maske freizulegen und erhebe Zeige- und Mittelfinger. Ein älterer Herr steht mit Mundschutz neben mir, spricht mich an: „Junger Mann, Du bis doch Türke?“. Ich antwortete: „Meine Eltern sind aus der Türkei“. Er sagt, dass sein Name Ismail ist und lädt mich zu einem Tee an den „Rentnertisch“ ein – und bestellt vier Çay. Ich greife nach der Tüte mit den Sesamringen und Ismail legt seine Hand auf meine Schulter und lotst mich an eine kleinen Cafétisch, an dem bereits zwei seiner Freunde sitzen – die beiden stellen sich als Gül und Orhan vor. Aus den anatolischen Städten und Dörfern kamen sie in der 60er und 70er-Jahren als Gastarbeiter nach Lippe. Sie wollten nicht lange bleiben, bald wieder gehen, mit einem Koffer voller Geld. Doch viele blieben. Aus den wenigen Jahren wurde oft ein ganzes Leben. Jetzt sind die Frauen und Männer der ersten Gastarbeitergeneration im Rentenalter. In der „vertrauten Fremde“ altern sie gemeinsam und treffen sich regelmäßig beim Bäcker zum Frühstück mit Börek, Simit, Lahmacun und viel Çay. Ismail Güngör wurde 1942 in einem Dorf bei Bursa im Westen der Türkei geboren.

Familienzugug nach Auswanderung

Mit ruhiger Stimme erzählt er, wie er vor 51 Jahren auf die Idee kam, die Türkei zu verlassen: „Alle, die nach Deutschland gegangen waren, schickten schon nach kurzer Zeit viel Geld an ihre Familien. Dort wollte ich auch hin.“ Nach ärztlichen Untersuchungen erhält er das ersehnte Einreiseticket und steigt 1969 am Istanbuler Bahnhof Sirkeci in den Zug. Zwei Tage dauert die Reise nach Almanya. Der 27-Jährige lässt Ehefrau und den zweijährigen Sohn in der Heimat zurück. „Ich wollte ja maximal fünf Jahre bleiben. Heute ist mein Sohn 53 und wir leben immer noch hier.“ Er erzählt abwechselnd in türkischer und deutscher Sprache – ich greife nach einer Serviette und mache mir Notizen alles auf Deutsch. Die herzliche Begrüßung auf dem Bahnhof in München hat auch Rentnerin Gül (75) noch sehr lebhaft in Erinnerung. „An den Gleisen standen deutsche Frauen, die uns Wasser, Brot und Obst gaben“, sagt sie. Allein hatte sie die Reise nach Deutschland angetreten – ihr Mann und die drei Kinder blieben in Istanbul. „Es war sehr aufregend, da ich vorher völlig von meinem Mann abhängig war. Doch das Schicksal wollte, dass ich die Ernährerrolle übernehme, weil mein Gatte an Asthma erkrankte“, sagt die Rentnerin, die 1970 im Alter von 25 Jahren nach Deutschland kam. „Ich wurde mit 14 Jahren verheiratet und durfte vorher nicht zur Schule, weil Mädchen nicht lesen und schreiben, sondern Kindern kriegen sollten“, sagt Gül. Doch für die Einreise muss sie Lese- und Schreibkenntnisse vorweisen. „Es war hart und peinlich, mit 25 musste ich Buchstaben und Zahlen lernen, aber es hat mein Selbstbewusstsein gestärkt“, erinnert sich die 75-Jährige, die als Hotelmädchen arbeitete. Ein Jahr später kommt ihr Ehemann mit den Kindern nach Deutschland, sie ziehen zu Verwandten nach Lippe. Er geht arbeiten, sie bleibt zu Hause und bekommt drei weitere Kinder: „Alle meine Kinder und Enkel leben in Deutschland. Zurück in die Türkei will niemand.“ Über die Probleme und Problemchen während ihrer „Gastarbeiterzeit“ wollen die Rentner gar nicht sprechen, ihnen brennt die gegenwärtige Situation der türkischen Jugendlichen auf den Nägeln. „Einige laufen halbstark durch die Gegend und können sich nicht benehmen, doch im Grunde sind die jungen Leute zu bedauern, weil sie nicht erzogen werden“, sagt Rentner Güngör, der 36 Jahre in der Holzindustrie gearbeitet hat.

„Deutsch- statt Religionskurse“

Viele seien hier geboren und ihre Eltern steckten sie in Moscheen, wo ihnen islamische Regeln aufgedrückt würden, die ihnen völlig fremd seien. „Wir leben in Deutschland und sie sollten sie lieber in Deutsch- und nicht in Korankurse anmelden“, meint er. Doch dies wollten viele Türken nicht hören, weil sie mit ihren Gefühlen und Gedanken vor 50 Jahren stehengeblieben seien, Traditionen ihnen wichtiger seien als Gleichberechtigung und diese verklärte Sehnsucht nach „Heimat“ an die nachfolgenden Generationen vererbten. Es sei traurig, dass viele Türkischstämmige, die inzwischen deutsche Staatsbürger seien, sich mehr für die politischen Vorgänge in der Heimat ihrer Vorfahren und nicht für die Entwicklungen vor der Haustür interessierten. Doch auch die deutsche Politik habe versagt, da sie die Probleme jahrzehntelang einfach ignoriert habe. Lösungsvorschläge? „Bildung, nur Bildung und nicht Machogehabe ist der Weg aus diesem Elend“, sagt Gül und nickt. Sie habe sich nach 32 Jahren Ehe von ihrem Mann getrennt. „Deutschland hat ihn verändert. Er hat getrunken und wurde gewalttätig, ich habe mich nicht gewehrt oder Anzeige erstattet, meine Waffe waren die Bücher, weil ich ja lesen konnte“, sagt die Rentnerin. Irgendwann habe sie die minderjährigen Kinder gepackt und sei geflohen. Anschließend eine Fortbildung gemacht und dann in mehreren Hotels gearbeitet. Ihr Mann sei vor zehn Jahren am Alkohol gestorben. „Ich musste gehen, denn ich bin auch Vorbild für meine Kinder, die sollten stolz und ich wollte nicht mehr Opfer sein“, sagt Gül und greift nach Orhans Hand, der noch gar nichts gesagt hat. Er ist Güls neuer Lebensgefährte.
Foto: Kamisli

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