Die große Uhr an der Wand der Backstube ist um 7.25 stehengeblieben, der rote Datumsschieber am Kalender ist seit Samstag 27. Juni nicht mehr bewegt worden. Alle Schüsseln, Waagen, Schneebesen und Teigroller sind gespült, eingeräumt und die Öfen aus. Nur zwei Fliegen liefern sich einen Luftwettkampf in der verwaisten Backstube. Die Landbäckerei Brakemeier im Lemgoer Ortsteil Lieme hat für immer geschlossen – die rund 3000 Bürger trauern um die letzte Bäckerei, die ihnen täglich ofenfrische Brote, Brötchen und Croissants servierte. Inhaber und Bäckermeister Klaus Brakemeier hört nach 27 Jahren auf: „,Ich habe leider keinen Nachfolger gefunden.“ Keines seiner drei Kinder und auch niemand außerhalb der Familie hat Lust, in der Nacht um zwei Uhr aufzustehen, wie er es jahrelang gemacht hat.Irgendwann, sagt der 63-Jährige, geht es halt nicht mehr, weil er nicht in der Backstube umfallen will. Er streicht mit seinen Fingerkuppen über die Mehlwaage. Senkt gedankenverloren den Blick, dreht sich zu den riesigen Knetmaschinen und lässt seine Hand an den Rändern der Edelstahlbehälter entlanggleiten.

„Mein Vater hätte bestimmt weitergemacht. Ich habe mit 15 Jahren meine Bäckerlehre angefangen und bin jetzt 63, nach 48 Jahren muss es auch noch Platz für etwas anderes im Leben geben“, sagt der Bäckermeister und greift nach den Schneebesen, die in unterschiedlicher Größe an der Wand aufgereiht sind. Derzeit sucht er nach Käufern für das Inventar der Backstube und des Verkaufsraums: „Die Sachen haben bestimmt einen Wert von rund 20.000 Euro.“Die Geschichte des Familienbetriebs Brakemeier im Ortsteil der alten Hansestadt beginnt 1960. Klaus‘ Vater Helmut, ebenfalls Bäckermeister, eröffnet einen kleinen Lebensmittelladen. „Wir hatten Milch, Butter, Kaffee und andere Sachen für den täglichen Bedarf im Angebot“, erinnert sich Brakemeier. Gemeinsam mit seinen vier Geschwistern und den Eltern wohnte er direkt über dem Laden. Alle mussten mit anpacken. 1975 kam noch mehr Arbeit auf die Familie zu – der Vater erweiterte den Laden um eine Bäckerei. Klaus beginnt mit 15 Jahren seine Bäckerlehre in Detmold, wechselt 1980 in den Familienbetrieb und übernimmt 1993 den Betrieb.

Die Geschwister haben kein Interesse. Bis zu seinem Tod im Jahr 2006 greift ihm Vater Helmut immer wieder unter die Arme – der Seniorchef stirbt im Alter von 73 Jahren an einem Krebsleiden. „Als mein Vater hier angefangen hat, gab es hier noch zwei Bäcker, einen Milchladen und zwei Supermärkte“, erinnert sich der 63-jährige Familienvater. Seit dem 27. Juni hat nun auch der letzte Bäcker geschlossen und damit endete die lange Historie des Familienbetriebs Brakemeier. Wirtschaftlich kam er „eigentlich ganz gut“ über die Runden, trotz der Billigkonkurrenz in den Discountern, die seit vielen Jahren eingefrorene Rohlinge über unsagbar weite Wege aus dem Ausland importierten und dann nach Bedarf aufbacken. „Dort kosten die Brötchen 14 Cent, bei uns zahlten die Kunden 31 Cent“, sagt Brakemeier. Geiz sei leider immer noch geil. Qualität und Wertigkeit spielten nur noch eine untergeordnete Rolle. Die Vielfalt an Broten und Brötchen, worauf die Deutschen so stolz seien und was auch ein Kulturgut sei, suchten die Kunden in den Billigbäckereien vergebens. Er habe es jeden Tag mit Qualität versucht. Jede Nacht aufgestanden, um verschiedene Brote, Brötchen und Teilchen zu backen.
Kunden verabschieden sich von ihrem Bäcker
Am letzten Arbeitstag verabschieden sich viele Kunden persönlich von ihrem Bäcker, bringen Blumen, Schnaps, Wein und in den vielen Karten taucht immer wieder der Satz auf: „Wir werden Dich vermissen, lieber Klaus.“ Nachdem er den letzten traurigen Stammkunden verabschiedet, tritt er mit Ehefrau Karin an die Tür der Bäckerei, gemeinsam wird für immer abgeschlossen. Eine Umarmung, ein Kuss auf die Stirn. Im Garten warten bereits die zwölf Angestellten, die zum Abschiedsessen gekommen sind. Es liegt Wehmut in der Luft, lustige und traurige Erinnerungen werden ausgetauscht. Die Herzen sind schwer und die Augen feucht, obwohl alle seit Ende vergangenen Jahres über die Schließung informiert wurden und bereits neue Stellen gefunden haben. „Wir waren schon eine eingeschworene Gemeinschaft“, sagt Brakemeier. Er streckt seine Arme in die Luft. Ein langer Atemzug. Eine Handbewegung, die ins Leere geht. „Eigentlich bin ich gar nicht so ein emotionaler Typ“, fügt er hinzu und wendet seinen Blick in Richtung des riesigen 1000-Liter-Aquariums in seinem Garten und beobachtet seine unzähligen Zierfische. Nach knapp einer Woche „Rentnerdasein“, muss er sich erst einmal an so viel Freizeit gewöhnen – sein Biorhythmus ist nach knapp 50 Jahren in der Backstube immer noch auf Nachtarbeit eingestellt. „Obwohl ich jetzt länger aufbleibe, wache ich spätestens um vier Uhr auf“, sagt Brakemeier. Dann packt er seine Anglersachen und genießt die Ruhe an den Flüssen und Seen in der Umgebung. Doch ganz los kommt er nicht von der Backstube. Das Brot, das zu Hause auf den Tisch kommt, backt er immer noch selbst.