„Spätestens beim Foto kommt es sowieso heraus. Spätestens heißt sofort“, sagt Zehra*, die seit Monaten eine Ausbildungsstelle als Optikern sucht. Denn wer die Bewerbungsunterlagen der 19-jährigen Detmolderin aus dem Briefumschlag zieht oder per Mail öffnet, sieht alles erstes das Foto rechts oben in der Ecke, ihr Foto, das Bild einer jungen Frau: den Mund zu einem heiteren Lächeln verzogen, der Blick aufgeschlossen, die Stirn noch ohne Sorgenfalten. Doch dann fällt der Blick nicht auf eine Frisur, sondern ein dunkles Kopftuch. Ab hier danke, nichts mehr, Unterlagen zurück: Keine Sekunde verwenden Personalchefs noch darauf, die Zeugnisse anzusehen, vermutet die Detmolderin. Geschweige denn sich den Namen zu merken – Zehra. Sie trägt Kopftuch, fühlt sich diskriminiert, chancenlos, ins Abseits gedrängt in ihrem Geburtsland Deutschland. Sie bittet um ein Gespräch, möchte ihre Freundin Esra mitbringen – wir verabreden uns in einem Café.Die jungen Frauen lassen mich 20 Minuten warten. Mit schwarzen Kopftüchern und dunkelgrünen Masken über Mund und Nase sehen sie etwas furchteinflößend aus. Sie tragen hohe Schuhe, enge Jeans und Schminke um die Augen – ganz normale Teenager nur mit verhüllten Haaren. Sie nehmen die Masken ab – lächeln und legen graue Mappen mit rotem Gummizug auf den Tisch. Die Bedienung kommt, ihr Mundschutz hängt am Kinn, und fragt nach Getränkewünschen. Sie schaut mitleidig die beiden Frauen an und wirft mir einem strengen Blick zu.
„Niemand zwingt mich zum Kopftuch“
Nach zwei Cola für meine Gesprächspartnerinnen dreht sie ab, ich rufe: „Ich hätte gerne einen Kaffee, bitte“ hinterher. „Die denkt wahrscheinlich, dass Sie uns zum Kopftuch zwingen“, lacht Esra und auch Zehras Mundwinkel gehen nach oben. Sie reichen mir einen Stapel Dokumente. Nur Absagen. Ich überfliege die Satzbausteine. Sehr geehrte Frau, vielen Dank für ihre Bewerbung, leider – insgesamt 45 Ablehnungen. „Liegt es vielleicht an den Noten?“, frage ich. Sie reichen mir ihre Zeugnisse – die schlechteste Note eine 4 in Sport. Die beiden vermuten, dass es am Kopftuch und dem Namen liegt. „Für die Deutschen werde ich immer eine Türkin bleiben, auch mit einem deutschen Pass“, sagt Esra, die in Lemgo geboren ist und mit einem Realschulabschluss in der Tasche gerne eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau machen möchte. Und das Gerede von besseren Berufsaussichten mit deutscher Staatsangehörigkeit hält sie für Heuchelei: „Unternehmen stellen keine Frau ein, die ein Kopftuch trägt“, sagt sie, und dann, als erwarte sie nächste Frage bereits: „Natürlich zwingt mich niemand, dieses Tuch zu tragen, nicht einmal meine Eltern. Ich mache das aus religiöser Überzeugung, so wie andere ein Kreuz tragen und ich frage mich, wie die Leute dazu kommen, dass meine äußere Erscheinung Einfluss auf meine Arbeit haben könnte.“ Das Kopftuch bedecke lediglich ihre Haare und nicht ihren Verstand. Doch bereits die Berufsberaterin habe ihr gesagt, dass das Tuch runter müsse, sonst habe sie keine Chancen auf dem Ausbildungsmarkt.
Kopftuch kein Zwang, sondern Überzeugung
Dazu ist Zehra jetzt bereit. Sie will die Kopfbedeckung nicht nur fürs Bewerbungsfoto, sondern auch während der Arbeitszeit ablegen, wenn ein Arbeitgeber dies wünsche. Sie hat auch einen deutschen Pass: „Ich habe hier die gleichen Rechte und Pflichten, doch Akzeptanz ist eben was anderes, da die Herzen und Köpfe voller Vorurteile sind.“ Ich frage nach einem Beispiel. Sie überlegt nicht lange. Immer wieder werde sie gefragt, woher sie komme: „Ich antworte aus Detmold, doch die Fragerei hört erst auf, wenn ich Türkei sage.“ Sie bezeichnet es als „verbale Ausbürgerung“ – diese Bezeichnung habe sie mal gelesen und sich gemerkt. Doch am schlimmsten seien die Fragen nach islamistischen Terroranschlägen. „Natürlich ist das schrecklich, menschenverachtend und diese Leute haben keine Religion, sie sind kaltblütige Mörder“, sagt die 19-Jährige. Doch sie habe das Gefühl, dass viele Deutsche ihr eine geistige Komplizenschaft mit diesen Kriminellen unterstellten, weil sie ein Kopftuch trage – das sei unfair und verletze sie sehr. Ihre Stimme bricht. Esra, streicht über die Schulter ihrer Freundin. Die Getränke kommen, mein Kaffee fehlt. Ich frage nicht nach. Zehra ergreift wieder das Wort. Auch ihre Eltern haben nichts dagegen, wenn sie das Kopftuch ablegt, um einen Arbeitsplatz zu bekommen. „Sie wissen, dass man ohne Lehre und Beruf in Deutschland nichts machen kann und ohne jegliche Perspektive ist“, sagt die 19-Jährige. Sie wolle nicht zu den muslimischen Frauen gehören, die einen Mann heiraten, in der Wohnung sitzen, Kinder kriegen und zudem auch finanziell abhängig sind. Daher gibt sie den Kampf um einen Ausbildungsplatz – auch in Coronazeiten – nicht auf. Sie hat 25 Bewerbungen geschrieben, aber bisher ohne positive Antwort: „Gott ist meinem Herzen, das Tuch werde ich dann eben vor und nach der Arbeit tragen.“Auch Esra muss 20 Absagen verkraften, aber sie will auf das Kopftuch nicht verzichten. „Leider verbindet die deutsche Öffentlichkeit die Kopfbedeckung immer mit der Unterwerfung der Frau, Druck oder totaler religiöser Abschottung“, sagt Esra. Sie brauche keine mitleidigen Blicke, sondern ein Heimatgefühl. „Ich bin hier geboren, meine Großeltern und Eltern haben dieses Land mit aufgebaut, aber auch nach 60 Jahren Einwanderung muss ich mich als ‚Kopftuchmädchen‘ bezeichnen lassen“, sagt sie – ihre Unterlippe bebt. Sie habe immer wieder gehofft, dass sie akzeptiert und respektiert werde, doch bisher vergebens. „Der Griff zum Tuch vor vier Jahren war auch ein Schutzschild gegen diese Enttäuschungen. Ich liebe Deutschland, doch manchmal habe ich das Gefühl, dass Deutschland mich nicht will und ich weiß nicht wohin“, fügt die Lemgoerin hinzu. Der Glaube zu Gott ist nun ihre Heimat, da fühlt sie sich geborgen, frei und respektiert.
„Der Glaube zu Gott ist meine Überzeugung“
Sie greift nach ihrem Getränk und fragt, ob meine Schwestern – ich habe gleich sechs – Kopftuch tragen? Ich schüttle den Kopf. „Warum nicht?“, fragt Esra. Die Frage überrascht mich. „Weil sie freie Menschen sind und eigenständig über ihr Leben entscheiden können“, antworte ich. „Sehen Sie, wir auch“, sagen die beiden im Chor. Sie verabschieden sich. Ich zahle, die Bedienung erinnert sich jetzt an meine Kaffeebestellung. Sie entschuldigt sich, ich lächele. „Die beiden sind einfach ohne mich los“, schiebe ich hinterher. „Gut so“, antwortet sie und drückt mir das Restgeld in die Hand.
*Namen geändert
Symbolfoto: Kamisli