Nach dem Bericht über die Detmolder Pflegefamilie am 16. Juli meldet sich die 26-jährige Manuela* – sie sei die andere Seite der Geschichte. Nicht in dem konkreten Fall, aber sie habe vor einigen Jahren ihre Tochter Lisa* in die Obhut des Jugendamtes geben müssen, weil sie ihr Leben nicht mehr meistern konnte. Sie möchte ihre Geschichte anonym erzählen. Wir treffen uns in einem Café.Sie legt einen Schlüsselbund, ihr Handy und die Maske auf den Tisch – der schwarze Rucksack wanderte unter den Stuhl. „Scheiß Corona, ich war schon unterwegs, musste noch mal nach Hause, weil ich den Mundschutz vergessen hatte“, sagt sie. Sie greift nach den Schlüsseln, wirft einen Blick auf ihr Handy und packt die Maske in den Rucksack. „Ich bin etwas nervös“, gibt sie zu. Bestellt eine Cola und fragt die Bedienung, wo sie eine Zigarette rauchen kann. Er zeigt in den Biergarten. Sie entschuldigt sich: „Muss mal kurz meine Nerven beruhigen.“ Nach fünf Minuten kommt sie zurück, nimmt einen großen Schluck aus dem Colaglas. „Eigentlich wollte ich das Treffen wieder absagen, weil ich so etwas noch nie gemacht habe und mir unsicher bin“, sagt Manuela. Ich muss ihr nochmals versichern, dass ihr echter Name nicht veröffentlicht wird. „Und natürlich bleiben auch die anderen Namen geheim“, sagt sie. Ich nicke. Sie greift nach der Limo und leert das Glas. Mit 21 zog sie aus Brandenburg nach Lippe zu einer Cousine und wollte endlich auf eigenen Beinen stehen, weit weg vom Elternhaus. Der Traum von einem Superjob im Westen platzte schnell, für die ausgebildete Verkäuferin. Sie landete in einer Drückerkolonne. Wollte weg – aber wohin? Sie trieb sich herum, feierte, trank, kiffte. Fühlte sich einsam. Schlief mal hier, mal da. Dann lernte sie Sergej* kennen. „Er brachte mich zum Lachen. Ich verliebte mich, so richtig“, sagt Manuela. Mit dem 24-Jährigen an ihrer Seite, sollte alles gut werden. Dass er ihr damals schon manchmal ins Gesicht schlug, wenn er getrunken hatte, änderte nichts an ihren Gefühlen. Nach wenigen Monaten wurde sie schwanger.
Die Glücksgefühle bleiben aus
„Zuerst war’s ein Schock. Ich hatte ja nix, war nix“, sagt sie. Dennoch, an Abtreibung hat sie nicht einen Augenblick gedacht. Sie war glücklich, sie hatte Hoffnung. Doch die Glücksgefühle konnte sie nicht mit Sergej teilen: „Drei Tage bevor ich erfahren habe, dass ich schwanger bin, wurde er für vier Wochen inhaftiert, weil er sich nur für Drogen interessiert hat“, erinnert sich Manuela. Sergej erfuhr im Besuchsraum des Gefängnisses von der Schwangerschaft. „Er hat nur gelächelt, fest meine Handgelenke gegriffen und Geld verlangt, damit er sich Gras im Knast kaufen konnte“, sagt Manuela. Gekifft hatte Sergej immer. Aber dann klaute er ihr Geld und kaufte sich Drogen, anstatt die Stromrechnung zu zahlen. Er schlief mit anderen Frauen. Als sie ihn zur Rede stellte, schlug er zu. Immer wieder. „Er verprügelte mich während der Schwangerschaft und ich hatte Angst ums Baby“, sagt die 26-Jährige, schaut zur Decke und wischt sich mit dem Handrücken über die Augen.Und als Lisa 2016 zur Welt kam, änderte sich nichts. „Er kiffte auch, wenn die Kleine im Raum war und prügelte die Liebe aus mir, wenn ihm die Drogen ausgingen und er Geld brauchte“, sagt Manuela. Sie trennte sich. Kaum war sie in eine neue Wohnung gezogen, stand der Gerichtsvollzieher vor der Tür und wollte Geld.
Sergej hatte Kopfhörer, Handys, Lautsprecher und teure Sportschuhe im Internet auf ihren Namen gekauft und die Sachen gegen Drogen eingetauscht. 5000 Euro Schulden. So stand sie erneut vor dem nichts: „Teilweise habe ich gehungert, damit das Kind etwas zu Essen hatte.“ Sie begann sich mit Lisa überfordert zu fühlen, sie immer häufiger anzubrüllen. Sie hielt es kaum aus, weil auch Lisa andauernd schrie und heulte. Egal, was sie machte, nie konnte sie es ihrer Kleinen recht machen. Manuela betäubte sich mit Bier, Wodka und Likör – die Auszeiten mit Hilfe des Alkohols wurden immer häufiger. „Ich war teilweise so betrunken, dass ich Lisas Schreien gar nicht mehr gehört habe“, sagt die 26-Jährige. Irgendwann wurde ihr klar, dass ihre Tochter es verdient hat, glücklich zu sein. Sie gibt das Kind mit knapp 18 Monaten zu Freunden, um ihr eigenes Leben in den Griff zu bekommen. Aber es klappte nicht. Die Freunde informierten das Jugendamt, das stellte den Kontakt zu einer Pflegefamilie her.
„Ich weiß nicht, ob der Schmerz irgendwann aufhört“
Heute ist Lisa glücklich, lebt in einer Familie – in Dauerpflege. Manuela darf sie besuchen. „Die Pflegeeltern sind wirklich super, Lisa strahlt und ich will sie aus dem Paradies gar nicht rausholen, aber es bricht mir das Herz, dass Lisa eine andere Frau Mama nennt“, sagt sie, schließt die Augen und greift nach dem Schlüsselbund. Inzwischen habe sie ihr Leben wieder im Griff. Sie trinke nicht mehr, habe einen Job und auch einen neuen Freund. „Der steht voll zu mir und wir wollen jetzt auch ein Kind“, sagt die 26-Jährige. Aber bei Lisa schreie ihr Herz. „Ich weiß nicht, ob dieser Schmerz irgendwann mal aufhört“, sagt Manuela. Mein Blick fällt auf ihren Schlüsselbund samt Anhänger und Babyfoto – ich frage nach. „Das ist Lisa“, sagt sie und die Tränen sind nicht mehr aufzuhalten.
* Namen geändert
Symbolbild: Pixabay