Ein Zimmer voller Gespräche

Ich habe um 9.20 Uhr einen Termin beim Augenarzt – melde mich mit Mund-Nasenschutz an und muss erst mal ins Wartezimmer. Dort sitzen eine Frau und ein Mädchen – beide in dunkelroter Partnerlook-Maske mit der Aufschrift „Immer sauber bleiben!“ und einem lachenden Nashorn mit Eimer und Besen. Ich wünsche einen guten Morgen – sie grüßen höflich zurück. Im Wartebereich gibt’s keine Zeitungen oder Zeitschriften, aber dafür Desinfektionsspender, Wasserflaschen und weiße Plastikbecher. „Sie sind doch der Herr, der schreibt. Ich habe ihre Namen eben an der Anmeldung gehört“, sagt die Frau – ich nicke. „Ja, ja ich lese die Geschichten gerne“, fügt sie hinzu. Ich bedanke mich. „Hallo, ich bin Sophie*. Wollen Sie mal vielleicht über meine Mutter berichten, die hat einen sehr interessanten Beruf?“, fragt die Mädchenstimme. Bevor ich antworten kann, steht die Arzthelferin mit einem kleinen Fläschchen Augentropfen vor mir – ich nehme die Brille ab. „Ich komme noch zwei Mal“, sagt sie und geht. „Vielleicht Raumpflegerin“, antworte ich und zeige auf das Maskottchen auf Sophie Mundschutz. „Ich bin Maria* und Sie können ruhig Putzfrau sagen. Ich mache das jetzt seit 18 Jahren. Oder? Nein, seit 19 Jahren“, antwortet die Mutter. Ihre genaues Alter verrät sie nicht – so Ende 40 könne ich schreiben. Ich krame einen Zettel aus meiner Jackentasche hervor und mache mir Notizen. Sie hatte eigentlich Sozialarbeiterin werden wollen. „Ich habe sogar mal ein paar Semester Psychologie studiert. Ist schon etwas her.“ Sie ging putzen, um das Studium zu finanzieren und blieb dabei, „weil mir immer was anders dazwischen kam.“ Was dazwischen kam war Georg*.

Ihr Putzen finanzierte dann sein Studium. Als er sie verließ, „war Sophie noch unterwegs.“Sophie ist nun 15 und nach Marias Worten eine fleißige Schülerin. Sophie sagt, sie würde alles für ihre Mama tun. „Nur nicht ihren Freundinnen gegenüber erwähnen, dass „meine Mutter bei anderen Leuten saubermachen geht.“ Wenn sie gefragt wird, sagt sie, ihre Mutter sei selbstständig. Sie habe eine Reinigungsfirma. Was ist daran gelogen? So stimmt es ja auch. „Ich habe damit kein Problem“, sagt Maria. Außer dass ihre Tochter damit ein Problem hat. „Wie ich das sehe, werde ich in drei Jahren mit meinem Putzen auch dein Studium finanzieren, wie bei deinem Vater.“ Und obwohl Marias Stimme jetzt ein bisschen laut ist und hart, strahlt ihr Gesicht vor Stolz über ihre Tochter.Maria hat täglich zwei Wohnungen in ihrem Handy-Terminkalender eingetragen. Pro Unterkunft drei Stunden. Sie arbeitet von sieben bis 14 Uhr mit einer Stunde Pause. In dieser Zeit ist sie in ihrem kleinen blauen Auto unterwegs zwischen den beiden Wohnungen. „Ich nehme 16 Euro die Stunde. Das ist zurzeit der Höchstsatz. Aber ich bin auch Spitze. Bad, Küche, das Bett. Durchsaugen, mal die Fenster, Blumen gießen. Ich mache die Wäsche und Bügelarbeiten. Auf besonderen Wunsch kaufe ich auch ein.“ Üblich seien zehn bis zwölf Euro und zwar unverändert schon seit einigen Jahren. Geputzt werde in lippischen Privathäusern inzwischen ab zehn oder ab acht Euro die Stunde. Ausländerinnen, die ohne Aufenthaltsgenehmigung lebten oder deren Asylanträge noch laufen oder womöglich abgelehnt worden sein, müssten sich unter solchen Umständen erpressen lassen – der Mindestlohn in Deutschland für Putzfrauen liege seit dem 1.1.2020 bei 9,35 Euro.

Maria verdient im Monat knapp 2000 Euro. Da Georg unregelmäßig Unterhalt zahlt, hält sie zusätzlich für 450 Euro Nachtwache in einem Altenheim, wenn Sophie alle zwei Wochen bei ihrem Vater ist. Unterbrechung – wieder landen die Tröpfchen abwechselnd in meinem rechten und linken Auge.Wie findet Sie die Putzkunden? „Die finden mich. Alles läuft über Empfehlungen und dann treffen wir uns zum Gespräch am Arbeitsplatz“ sagt Maria. Ihr neuester Kunde, insgesamt hat sie zehn, ist Arthur*. „Ich habe ihn seit drei Monaten – er wollte unbedingt jemanden, der in Coronazeiten seine Wohnung ordentlich säubert.“ Sie kann sich genau ans erste Treffen erinnern. Maria hatte beim Betreten gleich das Wesentliche in Augenschein genommen. Reine Routinearbeit. Altbau, Spinnweben waren nur mit einer hohen Leiter zu erreichen. Die oberen Fenster und Gardinen auch. Aber Gardinen gab es keine. Dafür Parkett versiegelt. Die Räume nicht zu voll gestopft. Kaum Staubfänger, bis auf die Bücher. Viele Spiegel allerdings, vor allem im Bad, und viel Chrom, auch in der Küche. „Das muss regelmäßig abgerieben und poliert werden.“ Sie sagte es ihm. Und er nickte. Während Arthur den Begrüßungskaffee zubereitete, taxierte sie ihn still für sich: Sohn aus wohlhabendem Elternhaus. Mitte 30. Wahrscheinlich in der Medienbranche. Er sei Neurologe und habe die Praxis von seiner Mutter übernommen, sagte er. Er sprach von seiner Ex-Putzfrau, die war ihm weggelaufen, über die tolle Wohnung, in der er sich sehr wohlfühle, und über die Ängste seiner Patienten in Coronazeiten. Alles Lockerungsübungen, dachte sich Maria. Sie erlöste ihn: „Ich nehme 16 Euro die Stunde.“ Sie sah ihm an, dass er mit weniger gerechnet hatte, und wartete in Ruhe schweigend. Die dritte Runde Augentropfen ist angesagt. „Sie werden gleich zum Doktor gebeten“, sagt die Arzthelferin und nickt mir zu. „Wann soll ich anfangen“, hatte Maria Arthur gefragt, nachdem er die 16 Euro geschluckt hatte. Sie kam schon am nächsten Morgen wieder und fand seine Zimmer vor, wie sie fast alle Wohnungen neuer Kunden in den ersten Putzstunden vorgefunden hatte – aufgeräumt. „Das gibt sich“, sagt sie. Die meiste Zeit verbringt sie im Bad. Angetrocknete Wassertropfen auf den Kacheln. Im Waschbecken Haare und Bartstoppeln. Der Spiegel darüber bedeckt mit Zahnputzflecken. In der Badewanne leichter Wasserstein entlang einer Tropfspur, auf dem Boden und im Abfluss Haare und Seifenreste. „Das Badezimmer, ist der Ort, der dadurch schmutzig wird, dass man sich selbst säubert und herausputzt“, sagt Maria. Wenn sie da durch ist, sieht und riecht sie den von ihr erschaffenen Zustand der Unberührtheit. „Das funkelt, duftet und nun zu Coronazeiten stelle ich auch Desinfektionsmittel ans Waschbecken“, sagt sie. In ihren eigenen Wänden, die sie an den Wochenenden putzt, verzichtet sich auf diese Mittel: „Wer seine Hände ordentlich wäscht, braucht dieses Zeug nicht.“

Das Wartezimmer füllt sich. Maria stört das nicht, ihre vielen Worte finden den Weg durch den Stoff vor ihrem Mund. Meine Blick fällt auf das lachende Nashorn auf Marias Maske, das durch ihre Atemzüge mit dem Besen zu tanzen scheint. Es gebe da Nachlässigkeiten bei ihren Kunden, die sie nicht verstehe. „Nicht die Frage, was ich saubermachen muss“, sondern in welcher Weise was schmutzig oder verdreckt ist. Wattebäuschen und Schminkläppchen, die zerknüllten Papiertaschentücher, „und wer weiß, was noch alles, ich guck‘ ja dann extra nicht mehr so genau hin“. „Es gibt Männer, die sind einfach nicht stubenrein. Frauen auch“, sagt Maria. Das was ihre Kunden hinter sich, unter sich fallen lassen mache ihr nur dann etwas aus, „wenn ich mal nicht gut drauf bin.“ Ich werde ins Behandlungszimmer gerufen. Es ist kurz vor 11 Uhr. Ich verabschiede mich bei Mutter und Tochter. Maria drückt mir eine Visitenkarte in die Hand, darauf ein lachendes Nashorn mit Besen, Eimer und einer Sprechblase: „Immer sauber bleiben“. „Das ist Saubi, sehr witzig, oder?“, fragt mich Sophie. Ich brauche eine Notlüge. „Ja, ja. Aber die Tropfen wirken schon und ich kann kaum was erkennen“, sage ich und eile ins Arztzimmer.
*Namen geändert
Fotos: Erol Kamisli

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