Es ist 22 Uhr – ein milder Maiabend samt sternenklarem Himmel. Birgit Möller öffnet das Fenster des Krankenhauszimmers auf Station 42 des Lemgoer Krankenhaus, damit die Seele ihrer kurz zuvor verstorbenen Mutter entweichen kann. Drei Tage verbrachte die 59-Jährige am Sterbebett ihrer Mutter Sigrid* – bis der Atem endgültig aussetzte. „Sie ist nicht in Verbindung mit Corona verstorben, sie hatte Leukämie“, sagt Birgit, die auch Mutter von zwei erwachsenen Kindern ist. Seit Monaten geht’s in Lippe und der gesamten Republik ums Überleben in Coronazeiten, doch gestorben wird trotzdem: an Krebs, Herzinfarkt, Altersschwäche; in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Hospizen. Aber das Virus veränderte das Bewusstsein von Sigrid und Birgit. Ihre 85-jährige Mutter hatte altersbedingte Zipperlein – etwas schwerhörig, aber sonst körperlich und geistig völlig fit. Doch innerhalb von knapp drei Wochen verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand rapide: Rettungswagen, Rückenmarkspunktion, Intensivstation und schließlich die Diagnose Blutkrebs im Endstadium. „Gibt es Hoffnung?“, fragte Birgit.
Keine Hoffnung, aber viel Empathie
Der Arzt schüttelte den Kopf und nahm sie in den Arm – auch das übrige Klinikpersonal zeigte großen Respekt und viel Empathie. „Meine Mutter war nicht mehr ansprechbar, wurde palliativ behandelt und erhielt Morphium“, erinnert sich die 59-Jährige. Ganz oben stand die Hoffnung, dass das Schmerzmittel, seine gnädige Wirkung entfaltete, damit die Rentnerin in ihren letzten Stunden keine allzu schlimmen Qualen mehr erleiden musste. Für Birgit wurde ein Bett ins Krankenzimmer gestellt. „Es erinnerte an ein Doppelbett. Ich habe mich zu ihr gelegt, vorgesungen, von gemeinsam Erinnerungen erzählt und Bilder gezeigt“, sagt die Detmolderin. Immer wieder nahm sie ihre Mutter in den Arm: „Ich pass‘ auf die Dich auf, Du bist nicht allein.“ Nach drei Tagen setzte der Atem aus – ein letzter Kuss auf die Stirn und eine feste Umarmung. Ihre Stimme bricht. Pause.

„Obwohl bei meiner Mutter kein Corona festgestellt wurde, veränderte das Virus ihr Bewusstsein bereits vor dem Tod“, erinnert sich Birgit. Die Bilder verzweifelter Angehöriger, die ihren Liebsten in den Notlazaretten in Italien beim Sterben nicht beistehen und sich nicht einmal mehr verabschieden konnten, hatten sich tief ins Bewusstsein der Rentnerin eingeprägt. „Sie hatte Angst, dass sie mal ins Pflegeheim muss. Sie hatte Angst vor dem Tod in der Isolation“, erinnert sich die 59-Jährige. Birgit wird nie erfahren, ob ihre Mutter zu diesem Zeitpunkt hätte sterben müssen, wenn sie früher, ohne Coronaangst, zum Arzt gegangen wäre, wenn ihr Krebs nicht erst im Endstadium diagnostiziert worden wäre. „Ich weiß nicht, warum meine Mutter so lange gewartet und nie einen Laut von sich gegeben hat“, sagt Birgit. War es Angst, Verzweiflung, Verdrängung? War es der bewusste, aber nie ausgesprochene Wunsch, sich – und die Ärzte – gar nicht erst in Versuchung zu führen, um komplizierte Behandlungen durchzuführen? Nach dem Tod der Mutter telefonierte Birgit mit vielen Bekannten und Freunden der Verstorbenen, dabei hörte sie immer wieder, wie die Senioren zunehmend unter der Isolation, die sie schützen soll, litten.

„Eine sagte mir, dass ihre letzten Begleiter keine Außerirdischen sein sollen, die von Kopf bis Fuß in Schutzanzügen gehüllt sind. Sie hat keine Angst vor dem Tod, aber vor dem Leid ohne die Aussicht auf Trost von ihren Liebsten zu sterben“, sagt Birgit. Natürlich seien Maskenpflicht, Abstand und andere Maßnahmen wichtig, um die Pandemie zu bekämpfen. Aber die Möglichkeit, am Sterbebett von den Angehörigen Abschied zu nehmen, gehört doch auch zur Würde des Menschen, betont Birgit: „Ich bin froh, dass ich diese Gelegenheit hatte und wünsche allen, dass sie den letzten Weg gemeinsam mit ihren Liebsten gehen können.“ Der Gedanke, dass ihre Mutter aus Angst vor einen einsamen Tod in Coronazeiten möglicherweise notwendige Arztbesuche hinausgezögert hat, erschreckt sie. Doch Birgit kann nicht mehr nachfragen, dass Geheimnis hat Sigrid im Juni mit ins Grab genommen.
*Name geändert
Bilder: Bernhard Preuss