Die Sehnsucht nach der Bühne

Er kommt im aufgeknöpften Hawaiihemd, grün-schwarz karieter Shorts, klapprigem Damenrad und blauer Sonnenbrille – Hugo Mallet ist Opernsänger und stellt meine Vorstellungen seines Berufsstandes, die durch gewichtige Männer im Frack geprägt wurden, völlig auf den Kopf. Der deutsch-britische Tenor ist ein Hingucker, wenn er in schriller, bunter Kleidung und mit Schlappen an den Füßen durch Detmold radelt. „Eigentlich mag ich die Stille“, sagt Hugo. Dann entfalte sich die Musik in seinem Herzen und seinen Gedanken. „Doch wenn auf die Stille keine Bühne mehr folgt, auf der das Herz ausgeschüttet wird, dann wird die Stille zur Belastung und raubt mir den Schlaf“, sagt der 58-Jährige. Denn die lange Corona-Pause im Opern- und Konzertbetrieb bringt freie Musiker, Sänger und auch renommierte Ensembles in existenzielle Nöte. „Von 100 auf Stillstand. Ich weiß plötzlich nicht mehr wie es weitergeht. Es ist wie eine Sackgasse“, sagt Hugo beim Treff im Biergarten. Er bestellt Weizenbier und die Zigarette zwischen seinen Fingern scheint unendlich zu brennen. „Ich bin etwas nervös. Es fällt mir schwer, über meine Existenzängste zu sprechen“, sagt Hugo und nimmt einen Schluck aus dem Bierglas.

Corona trifft mit voller Wucht

Den Tenor hat das Coronavirus mit voller Wucht getroffen, auch wenn er selbst gesund geblieben ist. Seit März hagelte es Absagen von all den Häusern, in denen Hugo üblicherweise singt. „Ich habe keine Einnahmen, lebe derzeit von einer kleinen Erbschaft, sonst müsste ich Hartz-IV beantragen“, sagt der Sänger, der Vater von zwei erwachsenen Töchtern und einem zweijährigen Sohn ist. Fast täglich, sagt Mallet, bekomme er verzweifelte Nachrichten von Kollegen, denen Corona ebenfalls den Boden unten den Füßen weggerissen habe: „Wir freien Sänger hatten durch dieses Virus plötzlich kein Einkommen mehr, obwohl wir Verträge hatten.“ Einige Theater hätten dann doch einen Teil der Gagen für abgesagte Vorstellungen gezahlt oder in Aussicht gestellt. „Viele Kollegen trauen sich nicht“, glaubt Mallet, „in dieser Situation Gehaltsforderungen zu stellen, weil sie Sorge haben, dann später nicht mehr beschäftigt zu werden“. Die Corona-Krise habe ihm eine ungewollte Schaffenspause beschert. „Das habe ich mir immer gewünscht, jetzt habe ich sie, ohne sie bestellt zu haben“, lacht der 58-Jährige.

Hugos wilde Musikerzeit.

Derzeit genieße er die freie Zeit mit seinem zweijährigen Sohn Henry und lerne neue Stücke. Hugos Weg auf die Theater- und Konzertbühnen verlief jedoch anders als bei anderen Opernsängern. Er war Sänger, Gitarrist und Songschreiber der englischen Punk-Metal-Band „Killerhertz“ aus London. „Wir haben immer im Pub ‚Princess Alexandra‘ geprobt und gespielt. Zufällig war das auch die Stammkneipe von Ian Fraser „Lemmy“ Kilmister, Gitarrist, Bassist und Sänger der Heavy-Metal-Band „Motörhead“, der 2015 verstarb. „Ich war 17, Lemmy bereits ein Star und Vorbild. Er war ein netter Kerl, doch er hat sich nicht so sehr für unsere Musik interessiert, sondern eher für Alkohol und die Spielautomaten“, erinnert sich Hugo. Er wäre sicherlich auch Sänger und Gitarrist geblieben, wenn er nicht eines Tages Probleme mit den Stimmbändern bekommen hätte. Der Arzt empfahl eine klassische Gesangsausbildung – Hugo war 23. Er folgte dem Rat des Mediziners absolvierte mehrere Meisterkurse in verschiedenen Ländern, wurde zu einem gefragten Tenor und tourte durch die Theater und Opernhäuser in Deutschland, Europa und Asien. 1995 wird er vom Detmolder Landestheater für zwei Jahre engagiert. „Ich habe mich hier verliebt, wurde dreifacher Vater und lebe seit dieser Zeit in Lippe“, sagt Hugo. Doch an seinem „kulturellen Vagabundenleben“ ändert sich nichts. Er ist ständig unterwegs zwischen Opernbühnen und Konzertsälen, und das weltweit. Er ist auf den Bühnen in Bayreuth, Paris, Dijon, Singapur, Luzern, Moskau, Peking und Berlin zu Hause. Eben ein gefragter Tenor. „Doch all das zählt jetzt nicht mehr. Ich kann mir dafür nichts kaufen“, sagt Hugo. Momentan probierten viele seiner Kollegen neue Konzertformate aus. „Ich sehe keinen Anlass für solche Ideen. Aber ich sehe auch, dass viel live gestreamt wird. Aufwendige Studio-Aufnahmen mit Perfektionsanspruch, die sind etwas anderes.“ Abgesehen davon stehe die Frage der Bezahlung im Raum, denn von Wohnzimmerkonzerten könne natürlich niemand leben. Also digitale Selbstausbeutung? „Es steht zu befürchten“, sagt Hugo. Ihm sei nicht danach, das Handy ins Bücherregal zu klemmen und irgendetwas übers Internet zu verbreiten. „Ich hoffe, dass nicht nur die Kollegen, sondern auch die deutschen Orchester und Theater die Krise überleben. Wir haben weltweit wahrscheinlich die vielfältigste Kunst- und Kulturzene. Diesen Schatz sollten wir gut hüten, denn Kultur ist ein wichtiger Teil der Gesellschaft“, betont Hugo.

Erinnerungen an große Auftritte.

Was gibt ihm Hoffnung? „Naja, was einem immer Hoffnung macht als Mensch: dass das Leben nicht auf Geld beschränkt ist, dass die Sonne scheint, dass es auch in unserer Gruppe Mitmenschlichkeit und Hilfe gibt“, sagt der Detmolder. Und die Musik mache ihm natürlich Hoffnung. Er freue sich, wenn er irgendwann mal wieder auf einer Bühne vor Publikum singen darf. „Wenn ich singe, hö̈re ich mir selbst zu, nein, eigentlich höre ich dem Werk zu“, sagt der Tenor. „Und es ist dieses Zuhören, das mich ein Musikstück immer wieder neu, tiefer kennenlernen lässt und überwältigt.“ Und diese Gefühle vermisse er doch sehr – sie seien fast stärker, als die Zukunftsängste.

Hoffentlich bald wieder auf der Bühne.

Fotos: Bernhard Preuss

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