Norbert* aus Lemgo kommt in Begleitung von Markus* und dessen Ehefrau Anja* zum Treffen im Biergarten. Das Paar stammt aus Norddeutschland und entspannt derzeit ein paar Tage in Lippe. „Die sind auch vom Fach“, scherzt Norbert. Mit „Fach“ meint er Spielsucht. Anja lächelt etwas gequält.
„Ich heiße Norbert. Ich bin ein Spieler. Heute will ich nicht spielen.“ Drei Sätze, die er auf einen Zettel geschrieben hat und als „Notfallpan“ für den akuten Suchtdruck im Portemonnaie hat. Regelmäßig sagt er die Sätze auch laut – beim Treffen der Anonymen Spieler (AS). „Ich habe mich bewusst für eine Gruppe außerhalb Lippes entschieden, um keine Bekannten zu treffen“, sagt der 52-jährige Pädagoge. Wegen Corona werden die Gruppentreffen derzeit ausgesetzt.Mehrere Frauen und Männer bilden die AS-Gruppe. Allen gemeinsam ist die Sucht zu spielen, von der sie allein nicht mehr loskommen. Es ist nicht das Roulette, das Pferderennen oder das Kartenspiel, das diese Menschen im Alter von 30 bis 70 zur Verzweiflung treibt, sondern die Sucht nach Geldspielautomaten, wie sie heute in fast jeder Gaststätte, in Autobahnraststätten sowie in zahllosen Spielhallen zu finden sind. In Deutschland stehen nach aktuellen Statistiken mehr als 263.000 Automaten.
Spieler müssen das Haus nicht mehr verlassen
Doch inzwischen brauchen viele Spieler gar nicht mehr die eigenen vier Wände verlassen, sondern suchen online per Handy oder Rechner in Internetcasinos ihr Glück. Norbert hat nur analog gespielt. Wann er sein erstes Geldstück in einen Spielautomaten geworfen hat, weiß er nicht mehr so genau. „20, 25 Jahre wird das her sein“, vermutet der Lemgoer. Inzwischen hat er Haus und Hof verspielt: Ein Eigenheim von 300.000 Euro ging verloren, die Ehe zerbrach und die Schulden wuchsen. Schließlich habe er an überhaupt nichts anderes mehr denken können – die Automaten waren sein Lebensmittelpunkt: „Der erste Weg nach der Arbeit führte schnurstracks in die Spielhalle.“ Vor vier Jahren wusste Norbert nicht mehr weiter, suchte Hilfe und fand Kontakt zu anderen Betroffenen in der AS-Gruppe. In dieser Runde sitzt auch der 33-jährige Markus. Mehr als 170.000 Euro hat der Norddeutsche in den vergangenen acht Jahren verspielt, eigenes Geld und bei Kredithaien aufgenommene Darlehen. Als das auch nicht mehr reichte und die Schuldenlast immer drückender wurde, fingen die Lügen, Diebstähle und Unterschlagungen an. Er landete vor Gericht und kam bisher mit Bewährungsstrafen davon.

„Die Automaten waren mein einziger Lebensinhalt“, sagt Markus. Seine Gedanken kreisten unablässig darum, wann er wo spielen kann, und wie er an Geld kommt. Doch am schlimmsten seien die Lügen gewesen, die sein ganzes Leben vergiftet hätten. Freundschaften brachen auseinander, er verlor seine Arbeit im Briefzentrum, die Ehe mit Anja stand auf der Kippe. Gemeinsam mit ihr versuchte er sogar online – allerdings vergebens – „kontrolliert“ zu spielen, also nach einer gewissen Zeit oder nach Verlust einer bestimmten Summe aufzuhören. „Zuerst glaubte ich, ihn von der Sucht heilen zu können“, erinnert sich Anja. „Aber das geht nicht. Er muss es vor allem selbst wollen, ich kann dabei nur ein wenig helfen.“ Diese Erkenntnis sei ihr erst gekommen, nachdem sie sich mit Betroffenen in einer Angehörigengruppe zusammengetan habe: „Davor habe ich die Schuld immer nur bei mir gesucht.“ Jetzt erfahre sie, dass andere Menschen ähnliche Probleme haben, wie etwa das ständige Misstrauen gegenüber dem Partner und natürlich große finanzielle Sorgen: „Selbst mir hat Markus Geld gestohlen“, sagt Anja, „er hat mich beschimpft und gedemütigt, aber ich glaube nicht, dass das Absicht war. Das war die Sucht“, fügt sie mit fester Stimme hinzu und zerknüllt die Papierserviette zwischen den Fingern. Er blickt zur Seite. „Seine Spielsucht hat unser Leben ruiniert. Wir wollten eigentlich auch Kinder, doch wir haben alles verloren“, sagt die 30-Jährige. Sie habe viel geweint, immer wieder gehofft und vertraut. Doch alles vergebens – Endstation Schuldnerberatung, Privatinsolvenz, Hartz IV, Umzug – neues, armes Leben. Markus sucht den Blickkontakt zu Anja, ihre Augen weichen aus.
Umschulung zum Lokführer
Er holt tief Luft: „Doch als ich auf der Anklagebank saß, Anja im Zuschauerbereich weinte und der Richter mir beim nächsten Wiedersehen mit Knast drohte, hat es Klick gemacht.“ Er habe Hilfsangebote angenommen und mit Unterstützung der AS seit zwei Jahren keine Daddelhalle mehr betreten. Jetzt macht Markus eine Umschulung zum Lokführer. „Ich kann den Automaten widerstehen, weil ich meine Frau liebe und ein neues Leben möchte“, sagt er und greift nach Anjas Hand. Sie zuckt mit den Schultern: „Ich hoffe wieder. Kontrolliere unsere Finanzen und putze nebenbei Büros.“ Bundesweit gibt es derzeit 70 AS-Gruppen, die sich nach dem Vorbild der bereits seit 1957 in den USA existierenden „Gamblers Anonymous“ zusammengefunden haben, um gemeinsam ihre Spielsucht zu zügeln. Wie die Anonymen Alkoholiker glauben auch die AS-Mitglieder, nie mehr von ihrer Sucht loszukommen: Ziel ist es, jeden Tag aufs Neue das „erste Spiel“ bleiben zu lassen. Einfach ist das nicht. „Wenn es dich überkommt, wenn du das Kribbeln spürst, dann rennst du los und bist wie besessen. Und wenn das erste Geldstück im Automaten ist, kommt die große Erleichterung. Aber dann kannst du nicht mehr aufhören, du spielst bis das Geld alle ist oder der Laden dichtmacht. Dabei weißt du doch: Der Automat gewinnt sowieso. Aber trotzdem kannst du es nicht lassen“, sagt Markus. In den Spielhallen stehen mehrere Automaten eng beieinander. „Ein richtiger Spieler hat immer zwei bis drei Automaten am laufen, da ist kein Problem, eben mal 500 Euro und mehr an einem Tag zu verdaddeln“, bestätigt Norbert.
Geldspielautomaten bestimmen das Leben
Jahrzehntelang diktierten die Geldspielautomaten das Leben des Pädagogen: „Es ging schon früh morgens los – da sah ich die rotierenden Scheiben vor mir.“ Oft habe er sich vorgenommen, nur „mal gucken“ zu gehen. „Aber dieses Milieu, diese Lichter, die elektronischen Laute der Spielautomaten und der ganze Wille war wieder im Eimer. „Selbst wenn du mal einen Tag lang kein Geld in den Kasten gesteckt hat, es spielt die ganze Zeit da oben drin“, sagt der Lemgoer und tippt mit dem Zeigefinger auf seinen Kopf. Gibt es Parallelen zu Alkoholikerin und Drogensüchtigen? „Man kann das zwar nicht alles gleichsetzen, aber gewisse Ähnlichkeiten gibt es doch, vom Wiederholungszwang bis hin zu Selbstmordgedanken und typischer Beschaffungskriminalität“, sagt Norbert, der sich nicht nur auf die AS-Gruppe verlässt, sondern auch professionelle Unterstützung von einem Therapeuten in Anspruch nimmt. Seine „Einstiegsdroge“ waren Videospiel- und Flipperautomaten. „Denn das spielen an den angeblich harmlosen Geräten hat anscheinend meine Neigung zu krankhafter Spielleidenschaft gefördert“, sagt der Pädagoge. Er wird für den Rest seines Leben für diese Leidenschaft zahlen – derzeit warten mehrere Gläubiger auf insgesamt 140.000 Euro. Hinzu kommt: „Du kannst ja nicht mal mehr in eine Gastwirtschaft gehen, überall steht so ein Ding. Man müsste die Automaten einfach verbieten“, fordert Norbert. Anja drückt sich drastischer aus: „Wenn ich die Dinger sehe, wird mir ganz schlecht. Dann muss ich an unser altes, schönes Leben denken, das nun in Schutt und Asche liegt.“ Sie hat die Serviette in Einzelstücke zerrupft und vor sich gestapelt.
*Namen geändert
Bilder: Bernhard Preuss