Aus Sven wird Silvia

Vor mehr als drei Jahren liest Silvia Müller (Name geändert) einen Artikel über Nina, die mal Norbert war. Diese Zeilen bewegen die 43-Jährige und sind das letzte Puzzleteil für ihre Entscheidung auf dem Weg zu ihrem „wahren Geschlecht“, schreibt mir Silvia, die als Sven (Namen geändert) auf die Welt gekommen ist. Sie wolle sich gerne mit mir treffen und ihre Geschichte erzählen – aber anonym. Wir treffen uns in ihrem kleinen Appartement in einem Detmolder Hochhaus.Silvia zupft an ihrem Perlenarmband, die Augenlider sind in einem Grünton geschminkt, die Wimpern getuscht, die Lippen zart rosé. Immer wieder greift sie nach den großen, goldfarbenen Ohrringen, als hätte sie Angst, dass sie rausfallen. Sie ist perfekt gestylt – wenn da nicht der Bart wäre, der wie ein Schatten unter dem hellen Make-up sichtbar ist, und die tiefe Stimme.

Immer wieder Mädchen in Leidern beneidet


Bis vor drei Jahren war die Architektin noch Sven, doch getrieben von der Sehnsucht nach einem weiblichen Körper, wird sie zu Silvia und verliert Heim, Familie und Job. Sven Müller wächst im bayerischen Kempten auf. Erzkatholisch. „Schon als kleiner Junge habe ich lieber mit Puppen gespielt und die Autos zur Seite gelegt“, erinnert sich die 43-Jährige. Später habe er am Fenster gesessen, durch die Gardinen gelugt und Mädchen beneidet, die in Kleidern die Straße entlang flanierten. Er beobachtete, wie sie den Kopf beim Lachen in den Nacken legen, und das gefiel ihm. Aber: Er konnte mit niemandem darüber reden. Das war sein Geheimnis. Mit 17 Jahren vertraut er der besten Freundin an, dass er lieber eine Frau sein wolle. Als Antwort gibt’s Schulterzucken und Kopfschütteln. Sven beginnt, sich für seine Wünsche und Gedanken zu schämen. Mit 20 probiert er, den Weg „eines Mannes einzuschlagen“. Er heiratet in der Hoffnung, dass er mit seiner Ehefrau den Drang, eine Frau sein zu wollen, überwindet. Die Ehe scheitert nach drei Jahren, und auch der zweite Versuch landet 2007 vor dem Scheidungsrichter.
Dann lernt er über das Internet Petra (Name geändert) aus Detmold kennen. „Wir haben uns super verstanden, deshalb bin ich 2009 zu ihr gezogen.“ Nur zwei Jahre später ist Hochzeit. Er wird er zum ersten Mal Vater – es läuft scheinbar. Die Familie kauft sich ein Haus, er arbeitet in einem Architekturbüro, sie fahren regelmäßig ans Meer – Bilderbuchfamilie. „Doch das Gefühl, im falschen Körper zu leben, ist nie verschwunden“, sagt Silvia heute. Alles sei unterdrückt worden, ein zweites Kind war unterwegs. „Ich habe diese Widersprüche, die Zerrissenheit einfach nicht mehr ausgehalten und sogar an Suizid gedacht.“

Im falschen Körper geboren

Im August 2017 dann das große Geständnis: Der damalige Sven erzählt seiner Frau, sich im falschen Körper gefangen zu fühlen. Doch es kommt erst mal nicht zur Trennung – das war seine große Angst. Wochenlang reden die beiden über Petras Geschockt-Sein, die Wut und die bohrenden Fragen – „war das vorher alles nur Lüge? Hast du mir jahrelang was vorgemacht?“. Petra bleibt. Mit ihrer Unterstützung und der Hilfe von Beratungsstellen beginnt die allmähliche Verwandlung des Sven in Silvia. Er besucht Ärzte und holt psychologische Hilfe, nimmt Hormone. Sie lassen ihm Brüste wachsen, stoppen aber nicht den Haarwuchs. Die Stimme ist noch tief. Der Körper verändert sich, die Liebe auch – da Petras Mann nun allmählich eine Frau wird. „Es ist nicht mehr derselbe Mensch, den ich geheiratet und lieb gewonnen habe“, sagt Petra am Telefon. Gleichwohl habe sie über ein Jahr überlegt: Was mach’ ich? Was halt ich aus? Was sind die Grenzen? Wie verkraften Kinder die neue Situation? Sie entscheidet sich 2018 für Trennung, zieht mit den Kindern aus und reicht die Scheidung ein. „Sven ist ein toller Mensch, aber ich will einen Mann und nicht eine Frau“, sagt sie und legt auf. Frausein ist für Silvia mühsam. Kleider trägt sie selten. Sie möchte nicht angeschaut werden. „Blicke sind oft lauter als das Tuscheln hinter vorgehaltener Hand“, sagt die Architektin. Es verletzt sie, wenn ihr Angetrunkene hinterherschreien, sie sei ein „kastrierter Mann“. Wenn Fremde sie anpöbeln, anspucken und beschimpfen. Sie kündigt ihren Job, arbeitet frei und zieht in ein anonymes Hochhaus.
Die Kinder, die sie regelmäßig sieht, nennen ihre Mutter Mama und Silvia, die mal ihr Vater war, nennen sie Papa-Silvia. Sie sind es, die die 43-Jähige meint, wenn man sie fragt, was Glück für sie bedeutet. Und vielleicht, sagt sie, sind die zwei ja glücklich, dass ich da bin. Sie greift nach einem Papiertaschentuch, wischt sich die Wimperntusche getränkten Tränen aus dem Gesicht und legt damit den Blick auf die zarten Bartstoppeln frei. Sie greift nach dem braunen Handspiegel auf dem Tisch: „Ich hasse diese Behaarung“, sagt sie und verabschiedet sich ins Bad. Nach zehn Minuten ist sie perfekt geschminkt zurück. „Irgendwann wird dieser elende Haarwuchs auch aufhören und ich noch weiblicher“, sagt Silvia. Zu ihren Eltern hat die 43-Jährige kaum Kontakt – der Vater spreche nicht mehr mit ihr, die Mutter verlange Geduld, wenn sie Silvia mit „Sven“ anspreche: „Du bist einfach immer noch mein Bub.“ Solche Bemerkungen verletzten sie: „Ich hab’ doch nur dieses eine Leben und bereue es, dass ich den Schritt zu Silvia nicht früher gegangenen bin.“ Foto: Pixabay

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