Deutsch, Mathe, Englisch, Geschichte – David Noack hat viel gepaukt, um seinen Realschulabschluss zu machen, doch anstatt zu feiern, macht sich der 15-Jährige große Sorgen. Häufig liegt der Teenager wach im Bett, schaut nochmal aufs Handy, schreibt und liest die aktuellen Coronameldungen, doch er kann nicht entspannen, um einzuschlafen – die Angst vor der Zukunft raubt ihm den Schlaf. „Wir sind eine Schaustellerfamilie mit Leib und Seele. Ich habe jetzt den Abschluss gemacht, um ins Geschäft meiner Eltern einzusteigen, doch Corona hat meine Zukunftspläne völlig auf den Kopf gestellt und kostet mich wahrscheinlich den Traumberuf“, sagt David. Er hält nun Ausschau nach einem „normalen Ausbildungsberuf im Handwerksbereich“, fügt er mit leiser Stimme hinzu. Er kneift die Augen zusammen, fährt mit der rechten Hand über seine Stirn und die Worte „normaler Ausbildungsberuf im Handwerksbereich“ wollen irgendwie gar nicht aus seinem Mund. Doch es klingt vernünftig, überlegt – nach einer Alternative zu einem Leben zwischen Schießbude, Musik-Express, Geisterbahn und Zuckerwatte. Doch sein trauriger Blick, seine unruhigen Hände verraten ihn. Er atmet tief durch und mit fester Stimme bricht es aus ihm heraus: „Aber mein Herz, mein Herz gehört der Kirmes. Ich liebe den Schaustellerberuf, weil ich zwischen Fahrgeschäften, bunten Lichtern und gebrannten Mandeln aufgewachsen bin. Es gibt einfach nichts Schöneres.“

Bereits im Altern von zwei Monaten wird David von einem Schaustellerseelsorger am Musik-Express seiner Eltern getauft. „Dies ist mein Leben, meine DNA und ich weiß eigentlich gar nicht, wie meine Sehnsucht nach dem Heimatgefühl auf den Rummelplätzen gestillt werden soll?“, fragt David. Mutter Lilo streicht mit Tränen in den Augen über Davids rechten Arm, Vater Mike schweigt mit gesenktem Blick, der elfjährige Bruder Toni verarbeitet seine Traurigkeit mit Ballerspielen am Computer und sogar Hündin Angel ist für eine paar Momente still und reiht sich in die Schweigerunde ein. „Schaustellerkinder werden früh erwachsen. Weil sie von Anfang an in den Arbeitsalltag integriert werden“, sagt die 47-jährige Lilo und durchbricht die Stille.Vor Corona verdiente die vierköpfige Familie auf den Kirmessen und Weihnachtsmärkten der Republik mit ihrem Musik-Express, dem Plüschtier-Greifer sowie mehreren Getränkeständen ihren Lebensunterhalt. „Eigentlich wären wir jetzt auf einem Volksfest in Ostfriesland“, sagt David beim Blick in seinen Handy-Kalender. Stattdessen fällt der Familie zu Hause in Detmold die Decke auf den Kopf. „Teilweise liegen die Nerven blank, denn die Mischung aus Langeweile und Existenzangst kann ganz schon explosiv sein“, räumt Mutter Lilo ein. Großveranstaltungen in NRW sind bis Ende des Jahres untersagt, was danach erlaubt und möglich ist, steht in den Sternen. „Dann sind wir zwölf Monate ohne Einkünfte. Wir hoffen auf den Weihnachtsmarkt in Lippstadt, der unter strengen Hygieneregeln stattfinden soll. Wenn auch dieses Ereignis ausfällt, können wir einpacken“, sagt die 47-Jährige. Die Detmolderin hat die Corona-Soforthilfe vom Staat beantragt und auch bekommen. Die durfte sie jedoch nur für betriebliche Ausgaben verwenden. „Jetzt müssen wir zum ersten Mal von Hartz IV leben, da für uns quasi ein Berufsausübungsverbot gilt“, sagt LiloDerzeit steht die Familie mit dem Plüschtier-Greifer an fünf Tagen auf einem umzäunten Kirmespark in Hannover, der nach Hygieneregeln zusammengestellt wurde. „Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein, aber besser als nichts“, meint Mike. Darüber freut sich auch Sohn David: „Es ist ok, aber es fehlt die Atmosphäre und auch die Leichtigkeit, weil alles in Schablonen gepresst ist und sonderlich lukrativ ist es auch nicht.“ Mit seinen Eltern könne er nicht über seine Nöte und Ängste sprechen, daher habe er mit anderen Schaustellerkindern eine Jugendgruppe in der Interessengemeinschaft der deutschen Schausteller (IGDS) gegründet.

„Vielen Jugendlichen geht es wie mir, daher stehen wir zusammen und versuchen uns zu unterstützen, aber wir wollen nicht abwarten, sondern für unsere Zukunft kämpfen, damit wir in die Fußstapfen unserer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern treten können“, betont der 15-Jährige. Die Gruppe organisiere Mailings an Politiker, mache mit Songs und Videos auf ihre Situation aufmerksam. „Es ist wichtig, dass wir solidarisch sind, aber ich habe auch Sehnsucht nach dem Leben auf dem Rummel“, sagt David. Er vermisse die bunten Lichter, die Achterbahn, das Kettenkarussell und seine Kirmes-Kumpels vom Schießstand gegenüber und aus der Geisterbahn. Mit ihnen ist er aufgewachsen, das ist seine Familie, seine Heimat. Das Schaustellerleben bezeichnet David als Paradies: „Wir dürfen mit allen Fahrgeschäften fahren, so viel wir wollen.“ Und er wolle wieder mitfahren! Rein ins Vergnügen. Zittern, schreien und dabei seine Freundin, die auch aus einer Schaustellerfamilie stammt, im Arm halten. „Die Kirmes ist unser Leben, doch das ruht zurzeit größtenteils und niemand weiß wie lange noch“, sagt David. Er vermisse sein Leben, möchte es gerne wieder haben und als Schaustellerfamilie nicht in den Geschichtsbücher landen – Mutter, Vater, Bruder nicken auch Hündin Angel verteilt bellend ihren Speichel im Raum und sorgt für den ersten Lacher an diesem Nachmittag.
Fotos: Bernhard Preuss