Immer Mittwochs kommt Charlotte Zöllner zur Lebensmittelausgabe der Tafel Bad Salzuflen. Die 62-Jährige ist eine von rund 250 Menschen, die regelmäßig mit leeren Taschen zur Ausgabestelle an der Oerlinghauser Straße kommen und anschließend mit Obst, Gemüse und Backwaren den Heimweg antreten. Die Rente der ehemaligen Sozialpädagogin liegt bei 850 Euro. „Wenn alle Kosten abgezogen sind, bleiben mir etwas mehr als 200 Euro“, sagt die alleinstehende Seniorin. Ihr einziger Luxus sei ihr Hund „Timo“ und die Zigaretten. „Die Tafel rettet mir seit acht Jahren das Leben. Ohne dieses Angebot könnte ich gar nicht überleben“, sagt die 62-Jährige und reicht das rote Zigarettenetui aus Blech, mit den selbstgestopften Glimmstängeln an Roland*, der sie nach einer Kippe fragt. „Je weniger man hat, desto solidarischer wird man“, sagt Zöllner. Kleine Rente, großes Herz, kommentiert Roland, zündet sich eine Zigarette an und gibt das Etui zurück.Vor dem Gebäude der Tafel in Bad Salzuflen steht ein großes Schild mit der Aufschrift „Bitte Abstand halten“ – Distanzaufkleber, wie man sie dieser Tage in vielen Supermärkten findet, suchen die Kunden vergeblich.

Im Innenraum haben die ehrenamtlichen Mitarbeiter den Ausgabebereich mit leeren Brotkisten verbreitert, um den Corona-Abstand zu den Bedürftigen einzuhalten. Maximal zwei Menschen dürfen sich hier gleichzeitig ihre mitgebrachten Taschen, Beutel und Einkaufstrolleys von ehrenamtlichen Helferinnen füllen lassen, die Regale sind voll – mit Brot, Bananen, Äpfeln, Salaten, Paprika, Kuchen, Süßigkeiten und warmem Essen – alles Spenden von Bäckereien, Supermärkten und Kantinen. „Heute erwarten wir 30 bedürftige Erwachsene, die für sich und ihre Familien Essen einpacken können. Die Auswahl ist groß und erinnert an die Auslagen eines kleinen Supermarktes“, freut sich Marita Albrecht-Nestmann, Vorsitzende der Bad Salzufler Tafel. Doch hier kostet der Einkauf lediglich zwei Euro: „Diesen Minibeitrag erheben wir von Erwachsenen pro Ausgabe.“ Jeder Kunde hat einen nummerierten Abhol-Ausweis – erst wenn Tafelchefin Albrecht-Nestmann mit fester Stimme die Nummer über den Innenhof ruft, dürfen die Kunden einzeln samt Mund-Nasen-Schutz zum Einkauf. So versucht die Salzufler Tafel jetzt, soziale Arbeit mit sozialer Distanz in Einklang zu bringen. Nach dem die Lebensmittel verstaut sind, gibt’s die Abhol-Ausweise für die kommende Woche: „Wer heute eine niedrige Nummer hatte, muss beim nächsten Besuch etwas länger warten – so ist es gerecht“, meint die 75-jährige Tafelchefin, die dem Verein, zu der auch die Ausgabestelle in Leopoldshöhe gehört, seit neun Jahren vorsitzt.

Für jeden Tafelkunden gelte eine strikte Bedürftigkeitsprüfung. „Hierher kommt niemand, der nicht muss“, sagt Albrecht-Nestmann.Gekommen ist auch der 74-jährige Josef*, er hat die Nummer fünf und sucht mit anderen Kunden unter dem Vordach Schutz vor dem Nieselregen. Trotz Abstandsauflagen ist ein Stimmengewirr, aus Deutsch, Russisch und Arabisch zu hören – einige schreien durch ihre Mund-Nasen-Bedeckung andere lassen die Masken, locker am Handgelenk baumeln oder haben sie unters Kinn gezogen. Seit 2006 kommt der Ex-Bankkaufmann wöchentlich zur Tafel: „Mein Rücken, meine Nerven sind zwei Jahrzehnten kaputt und die anfängliche Scham habe ich schon lange abgelegt, da die rund 1000 Euro im Monat einfach nicht reichen“, sagt Josef. Ihm sei es wichtig, dass die Tafelmitarbeiter ihn respektvoll und nicht wie einen Bittsteller behandeln. „Höflichkeit und ein ordentlicher Umgang sind mir wichtig“, sagt der Ex-Banker. Er hadere nicht mehr mit dem Schicksal und fühle sich auch nicht vom Leben betrogen. „Ich kämpfe, trauere, weine nicht mehr und will meine verbleibenden Jahre ohne Reichtum, aber in Würde leben. Dabei hilft mir die Tafel“, sagt der Rentner. Über den Hof ruft Marita Albrecht-Nestmann: „Nummer 5.“ „Ich muss“, sagt Josef, greift nach seinen drei Plastiktüten und verabschiedet sich.

Die Tafel-Chefin erinnert die übrigen Kunden lautstark an die Sicherheitsregeln in Coronazeiten: „Abstand halten, Hygiene beachten und Maske hoch“, ruft sie in Richtung der Menschentraube, die unter freiem Himmel quatscht. Die Leute treten einen Schritt zurück und ziehen ihre Masken ins Gesicht. „Die Sicherheit der Kunden und unserer rund 40 ehrenamtlichen Helfer, die im Alter von 40 bis 80 Jahren sind, haben höchste Priorität“ sagt Albrecht-Nestmann. Einige Helfer haben ihre Engagement beendet, denn sie gehören zur Risikogruppe und sollen oder wollen das Haus nicht mehr verlassen. Der übriggeblieben Ehrenamtler sollen nicht ungeschützt mit den Kunden in Kontakt kommen, und auch untereinander soll Abstand eingehalten werden.

Marita Albrecht-Nestmann hat die Mitarbeiter in kleine Teams eingeteilt, sodass im Falle einer Infektion mit dem Coronavirus nicht alle gleichzeitig ausfallen. „In Bad Salzuflen wie auch anderswo versuchen wir mit allen Mitteln, den Betrieb auch während der Pandemie aufrechtzuerhalten, um die Bedürftigen weiterhin mit Lebensmitteln zu versorgen“, sagt die Ex-Personalerin.
Allein in der Salzestadt gibt es mehr als 230 Kunden und in Leopoldshöhe nochmal 100. Hinter diesen Zahlen stecken rund 1200 Menschen, darunter viele Rentner, alleinerziehende Frauen, Studierende und zahlreiche Flüchtlinge samt Familien. „Die Lebensmittelausgabe ist natürlich nur ein Aspekt der Tafeln“ sagt die 75-Jährige. „Alles andere, was unsere Arbeit auch ausmacht, bleibt dabei momentan auf der Strecke. Menschlicher Kontakt, Wärme, das Gefühl von Gemeinschaft und Teilhabe“, fügt sie hinzu. Die Tafeln als Begegnungsorte für bedürftige Menschen könne es während der Kontakteinschränkungen nicht geben. „Doch anders geht es angesichts der Infektionsgefahr nicht“, betont Albrecht-Nestmann.

Hinzu kommt: Eine Essensausgabe auf Abstand zu organisieren ist nicht überall möglich. An einigen Orten sind zudem die Spenden so stark zurückgegangen, dass es schlichtweg nur noch sehr wenige Lebensmittel zu verteilen gibt. „Wir haben derzeit noch keine größeren Ausfälle und stehen in Kontakt mit den anderen Tafeln, tauschen untereinander oder geben sogar Lebensmittel weiter, wenn diese bei uns über sind“, sagt Albrecht-Nestmann. Denn je mehr in den Supermärkten gekauft werde, umso weniger treffe bei den Tafeln für die bedürftigen Menschen ein. „Ich kann es mir nicht leisten, auf Vorrat einzukaufen. Arme können nicht hamstern“, sagt Charlotte. Wenn sie irgendwann mal im Lotto gewinne oder zu Geld komme, wolle sie sich neue Kleider, Schuhe kaufen und endlich mal wieder in ein Restaurant gehen. „Davon träume ich“, sagt die 62-Jährige und reicht ihr Zigarettenetui weiter.
*Namen geändert
Fotos: Bernhard Preuss