In meinem Briefkasten liegt ein DIN-5-Umschlag – schon mal benutzt, mit Herzchen-Klebeband verziert und der Aufschrift „dringend“ versehen. Die Absenderin ist Jacqueline* (28) aus Detmold, die ihren echten Namen nicht nennen möchte. Sie bittet mich um ein Gespräch, da sich der „Ermordungstag ihrer Freundin Arzu Özmen“ am 1. November zum neunten Mal jährt. Wir verabreden uns im Supermarkt-Café – die Straßen an diesem regnerischen und windigen Nachmittag sind wie leer gefegt. Die zweifache Mutter greift in die mitgebrachte Stofftasche und breitet Bilder von sich und Arzu auf dem kleinen Tisch aus. Die beiden Teenager lachen auf der Couch, prosten sich mit Coladosen zu und beißen gemeinsam in ein Croissant. „Sie war so ein lebensfroher Mensch, meine Freundin und wurde vor neun Jahren kaltblütig ermordet “, sagt sie mit fester Stimme und streicht mit Zeige- und Mittelfinger über die unscharfen Fotos. Jedes Jahr besuche sie an „Arzus Ermordungstag“ den Gedenkstein auf dem Friedhof in Detmold-Remmighausen, dieses Jahr etwas früher, weil sie am 1. November unterwegs sei.
Mord durch aufgesetzte Kopfschüsse
„Es gibt immer noch Berührungspunkte zur Familie, da einige von Ihnen nach der Haft wieder hier leben“, sagt die 28-Jährige. Arzu Özmen wurde vor knapp neun Jahren von ihren Geschwistern ermordet. Im November 2011 verschleppten sie die 18-Jährige aus der Wohnung ihres deutschen Freundes in Detmold. Wegen der Liebe der beiden hatte es immer wieder Ärger in der jesidischen Familie gegeben. Die Glaubensgemeinschaft erlaubt keine Beziehung mit einem Nicht-Jesiden. Angeblich wollten sie sie zu einem Onkel in Hamburg bringen, zwei Monate später fand ein Greenkeeper Arzus Leiche neben einem Golfplatz in der Nähe von Lübeck. Das Schicksal des Mädchens, das in ein Frauenhaus flüchten konnte, eine neue Identität bekam, am Ende aber doch von seiner Sippe getötet wurde, bewegte Menschen im ganzen Land. Man hatte sie mit zwei aufgesetzten Kopfschüssen hingerichtet. Für das Landgericht Detmold im Mai 2012 ein klarer „Ehrenmord“. Lebenslänglich wegen Mordes und Geiselnahme für den Schützen, zehn Jahre für die älteste Schwester und einen Bruder wegen Beihilfe zum Mord und Geiselnahme, fünfeinhalb Jahre für zwei weitere Brüder wegen Geiselnahme, die nur am Anfang an der Verschleppung beteiligt waren. Der damalige Richter Michael Reineke bezeichnete die Tat als „Hinrichtung“. Die Täter hätten ihre Schwester auf dem Gewissen, nur weil diese etwas mehr Freiheit gewollt habe. Das Gericht sah als Täter nicht nur den, der abgedrückt hatte – zwei aufgesetzte Schüsse in die linke Schläfe -, sondern auch jene, die bei der Bluttat selbst nicht mehr dabei gewesen waren. Richter Reineke glaubte dem geständigen Angeklagten nicht, dass er Arzu allein und spontan getötet habe. Die Geschwister hätten die Tat gemeinsam begangen. Prof. Jan Kizilhan, Psychologe und Soziologe aus Freiburg, wurde als Gutachter im Prozess gehört. „In archaischen Kollektiven wird für solche Taten nicht selten derjenige ausgesucht, der am wenigsten zur Gemeinschaft beiträgt“, erläuterte der Experte. Der geständige Schütze war von den fünf verurteilten Geschwistern der Einzige ohne Ausbildung, ohne eigene Familie. Nach vier Wochen Verhandlung fällte das Detmolder Landgericht die Urteile gegen die Angeklagten – die Eltern kamen kein einziges Mal zum Prozess, der fünf ihrer Kinder ins Gefängnis brachte, weil sie ein sechstes ermordet hatten. Im Februar 2013 wurde Arzus Vater wegen Beihilfe zum Mord durch Unterlassen sowie gefährlicher Körperverletzung zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt.
Arzus Geschwister und Vater verurteilt
Auch die Mutter wurde wegen gefährlicher Körperverletzung, Freiheitsberaubung und Nötigung zu einer einjährigen Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt. Bis auf den Bruder, der die lebenslange Haft verbüßt und vor dem 31. Oktober 2026 nicht aus der Haft entlassen wird, sind alle auf Bewährung in Freiheit. Der Regen hat inzwischen aufgehört – Jacqueline lädt mich zum Spaziergang in Richtung von Arzus Elternhaus ein. Wir kommen an der Bäckerei vorbei, in der Arzu ausgeholfen und ihren Freund kennengelernt hatte. Nach ungefähr 20-Minuten Fußmarsch stehen wir vor dem Haus der Özmens und werden von Ursula Mohns* angesprochen; ihr Haus steht in der Nähe des Özmens Anwesens: „Wenn wir uns auf der Straße treffen, gehen wir wie Fremde aneinander vorbei“, sagt sie mit stockender Stimme hinter der Maske. Sie kenne die Familie seit Jahrzehnten: „Da konnte die kleine Arzu noch nicht auf den Beinen stehen. Die waren wie unsere Enkelkinder“, sagt die Rentnerin. Alle seien hilfsbereit, freundlich gewesen und die Familie habe nie den Eindruck gemacht, dass sie besonders religiös sei. Arzu kam aus einer Familie, die mustergültig integriert schien. Vor mehr als 30 Jahren waren die Özmens, deutsch-kurdische Jesiden, aus Ostanatolien nach Deutschland geflüchtet. Die älteste Tochter, machte Abitur, wurde Verwaltungsangestellte, wollte in den höheren Dienst und engagierte sich in der Gewerkschaft. Sie galt in ihrer Heimatstadt Detmold als Beleg, dass Integration funktionieren kann. Auch ihre Brüder kamen in Lippe sehr gut zurecht, sie hatten Handwerksberufe gelernt und waren in der Freiwilligen Feuerwehr aktiv – mehr „Integration“ geht nicht.
„Der Fall widerlegt die verbreitete Annahme, dass Bildung der Schlüssel zur Integration ist“
Die Familie hatte es zu bescheidenem Wohlstand gebracht. „Der Fall widerlegt die verbreitete Annahme, dass Bildung der Schlüssel zur Integration ist. Wenn Geschwister oder Väter einen Mord begehen und billigen, weil sie einen archaischen Ehrenkodex verletzt sehen, ist dies im 21. Jahrhundert nicht hinnehmbar“, sagt Pädagogin Mohns. Ein religiöses oder kulturelles Brauchtum, das sich zu modernisieren nicht imstande oder willens sei, dürfe nicht toleriert werden. „Nicht durch Gewalt und Zwang, aber durch die Arzus dieser Welt. Etwas besseres als derlei menschenverachtende Traditionen finden sie allemal. Nur schützen muss man diese Mädchen und Frauen“, betont Mohns. Sie könne bis heute nicht begreifen, was vor rund neun Jahren vor ihrer Haustür passiert sei. Mit dem Verschwinden der damals 18-Jährigen sei der Kontakt zur Familie abgebrochen. „Plötzlich war unsere Straße in Polizeihand“, erinnert sich die Seniorin. Nach dem Leichenfund, den Verhaftungen und den Gerichtsprozessen habe sie das Verhältnis zu den Özmens endgültig begraben. Andere Nachbarn folgten. Natürlich seien Emotionen hochgekocht, einige hätten sogar den Umzug der Familie gefordert.Diese Gefühle kennt Jacqueline, die einige Mitglieder der Familie Özmen immer mal wieder sehe. „Ich habe kein Mitleid, sondern bin wütend“, beschreibt sie ihre Gemütslage. In Erinnerung geblieben sind ihr die vielen Menschen, die sich zum Trauermarsch trafen, Kerzen aufstellten und Bilder zeigten. Aber auch der Tag, als sie von Arzus Tod erfahren habe. Sie sei gleich zu ihrem Freund gelaufen und habe nur noch geweint. Erst vergangene Woche habe sie mit ihm gesprochen, doch dieser wolle von dem Mord nichts mehr hören. „Ich möchte mich aber erinnern, damit diese schreckliche Tat nicht vergessen wird“, sagt Jaqueline, greift nach dem Taschentuch und verabschiedet sich in Richtung Friedhof. Dort erinnert seit April 2013 ein Gedenkstein an die Ermordung von Arzu Özmen mit der Aufschrift: „Sie wollte selbstbestimmt leben.“
*Name geändert