„Mama, Mama“, ruft der sechsjährige Osman durchs Treppenhaus des Mehrfamilienhauses an der Detmolder Immelmannstraße – doch seine 24-jährige Mutter liegt bereits ermordet in der Wohnung des 53-jährigen Nachbarn im dritten Stock. Er lockt den Jungen die Treppen hinauf, schließt die Tür und sticht mit einem Messer auf den kleinen Körper ein. Die Rechtsmediziner zählen 15 Einstiche – zwei mitten durchs Herz. Zuvor hatte der Nachbar die junge Frau mit mehreren Messerstichen in Brust, Bauch und Hals getötet, weil sie keinen Sex mit ihm wollte und anschließend die Leiche in seine Dachgeschosswohnung geschleppt. Er wollte sie vergewaltigen, doch der Sohn der Getöteten kam ihm dazwischen und musste ebenfalls sterben. „Diese schreckliche Tat aus dem September 2017 haben sich im mein Hirn und Herz eingebrannt. Das Schicksal der beiden ist wirklich herzzerreißend. Sie verließ ihren prügelnden Ehemann, um einem Mörder in die Hand zu fallen. Erst ein Monster und dann ein Ungeheuer“, sagt Möbelunternehmer Mustafa Yilmaz, der sich an der Freundin von Arzu Özmen ein Vorbild nimmt und ebenfalls an seine ermordeten Freunde erinnern möchte. „Obwohl die Tat inzwischen mehr als drei Jahre her ist, Mutter und Kind beerdigt sind, kann ich nicht in Worte fassen, wie erschüttert und traurig ich bin“, sagt der zweifache Vater.

Immer, wenn er an dem Haus an der Immelmannstraße vorbeifahre, werde sein Herz schwer, sagt er beim Treffen im Möbelhaus. Der Detmolder kannte Mutter und Sohn, die 2016 aus Bulgarien nach Lippe übersiedelten, sehr gut, denn die 24-Jährige hatte in seiner Detmolder Firma als Reinigungskraft gearbeitet.Am Montagmorgen, 11. September 2017, vermisst Yilmaz die junge Frau an der Arbeit. „Ich hatte schon ein mulmiges Gefühl, da sie immer pünktlich war und auch nicht ans Handy ging“, erinnert sich der 40-jährige Yilmaz. Gemeinsam mit der Familienhelferin sucht er vergeblich nach Mutter und Sohn. Sie schauen an der Immelmannstraße nach, nutzen den Zweitschlüssel für die Wohnung, den sie in der Firma deponiert hatte, „weil wir sie retten sollten, wenn ihr Mann wieder zuschlägt“, fügt der 40-Jährige hinzu. Das Licht in der Wohnung brennt, der Fernseher läuft, die Vorhänge sind zu, Essen steht bereit. Sie vermuten, dass etwas Schlimmes passiert sein könnte, und alarmieren die Polizei. Die Streife kommt. Ihr erster Verdacht richtet sich gegen den Vater des Sechsjährigen, den die 24-Jährige immer wieder als „Monster“ als bezeichnet habe.
Aber die Beamten zweifeln, denn sie entdecken notdürftig aufgewischte Blutspuren im Treppenhaus sowie Damen-Pantoffeln und eine große Blutlache im Keller. Sie rufen die Kripo hinzu. Die Beamten finden weitere Blutspuren, die bis zur Wohnungstür des arbeitslosen Nachbarn im oberen Stockwerk führen. Sie verschaffen sich Zutritt und finden die Leichen der Mutter und ihres Sohnes. Die anschließenden Untersuchungen ergeben, dass die beiden bereits am Samstag ermordet worden waren. Insgesamt 30 Mal hatte der 53-Jährige mit einem Küchenmesser auf die beiden Opfer eingestochen und sich nach der Tat per Bahn nach Hamburg abgesetzt. In der Hansestadt lebte T. einige Tage auf der Straße und wurde am 16. September auf der Reeperbahn von Zivilfahndern festgenommen.Am 22. Februar 2018 beginnt vor dem Detmolder Landgericht der Prozess gegen den Detmolder.
Bereits im ersten Satz gesteht er den Doppelmord: „Tut mir leid, dass ich die beiden getötet habe.“ Und im Gegensatz zu dem kurz gefassten Geständnis, folgen ausführliche Berichte aus Kindheit und Jugend. Er erzählt von einem saufenden Stiefvater, von verstorbenen Geschwistern, von einer Frau, die ihn betrogen hat und einer Verlobten, die starb. Die Arme mal verschränkt, dann die Hände gefaltet oder mit den Fingern etwas in die Luft malend, erzählt er ohne Unterlass. Richter Karsten Niemeyer muss ihn stoppen und bittet, sich zur Sache zur äußern. Ob er einen Hauptschulabschluss habe? „Nein, so klug war ich nicht.“ Und Arbeit? „Immer mal einen Job.“ Warum Hamburg? „Ich wusste, dort gibt es Übernachtungsstellen an den Brücken. Das hatte ich zufällig gelesen, als ich wegen Uwe Seeler im Internet war.“ Er wirkt nahezu stolz, als er von Internet-Kenntnissen erzählt, vom Fußball und handwerklichen Fähigkeiten, oft habe er der Nachbarin und ihrem Sohn geholfen. Am Tattag habe er sie beim Aufbau eines Schrankes unterstützt. „Ich wollte mich mit einem Küsschen bedanken, doch sie wehrte ab“, sagt er. Dann sei er sauer geworden und habe das Messer gezückt, das er bei sich getragen habe, um Schubladen zu reparieren. Was dann genau geschehen ist, könne er sich nicht erklären: „Ich habe sie aber nicht vergewaltigt.“ Von Oberstaatsanwalt Christopher Imig an den versuchten Mord und die schwere Vergewaltigung erinnert, weshalb er 2005 zu acht Jahren Haft verurteilt worden war, sagt der 53-Jährige.: „Ach die, Schnee von gestern.“ Doch was er lapidar abtut, hätte einer Frau fast das Leben gekostet. Nach einem Filmabend hatte eine Bekannte sein Angebot, die Nacht mit ihm zu verbringen, abgelehnt. Da ist er über sie hergefallen, „um dennoch seine Befriedigung zu erlangen“, stellten die Richter in ihrem Urteil aus dem Jahr 2005 fest.
Nach den Pornos vergewaltigt er die Bekannte
Das Opfer wurde von mehr als 20 Messerstichen an Kopf, Hals, und Oberkörper sowie zahlreichen Faustschlägen getroffen und verlor das Bewusstsein. Er vergewaltigte die Frau, von der er glaubte, sie sei tot. Anschließend wischte er die Blutlachen auf, packte die blutige Kleidung des Opfers in eine Tüte und ging unter die Dusche. Als er aus dem Bad kam, ist die vermeintlich Tote weg – die lebensgefährlich verletzte Frau hatte das Bewusstsein wiedererlangt, sich zu einem Nachbarn geschleppt und ihn später im Zeugenstand als „Ungeheuer“ bezeichnet. Das Gericht gestand ihm damals eine verminderte Schuldfähigkeit zu, da eine Persönlichkeitsstörung als Folge einer leichten Intelligenzminderung vorliege. 2010 wird er vorzeitig aus der Haft entlassen, weil ihn Experten inzwischen als ungefährlich einschätzten – doch sie sollten sich irren. Denn nur acht Jahre später sitzt er wegen Doppelmordes wieder auf der Anklagebank und die Parallelen zwischen den Taten sind offensichtlich. Oberstaatsanwalt Imig bezeichnet ihn als gemeingefährlich und tickende Zeitbombe. Gutachterin Dr. Nahlah Saimeh spricht von einem „ganz ungewöhnlichen Fall“. Dass Täter nach 13 Jahren rückfällig würden, sei sehr selten, sagt die forensische Psychiaterin vor Gericht. Er habe in der Bewährungszeit nach der vorzeitigen Haftentlassung sowie in den Jahren danach unauffällig gelebt und in Anbetracht seiner minderen Intelligenz den Alltag gut gemeistert. Doch ihre Prognose ist klar: „Seine Gefährlichkeit bleibt, die ist nicht therapierbar. Irgendwann wird sich der Schalter bei ihm wieder umlegen.“ Die Expertin attestierte ihm „ein langjähriges Sehnen nach Nähe“ und eine „massive Kränkbarkeit“. Er könne seine Impulse nur eingeschränkt kontrollieren, hadere mit sich „als Mann“, seinem Aussehen und seiner Erfolglosigkeit bei Frauen. „Er hat diesem Wut-Tsunami, wenn er von einer Frau abgelehnt wird, nichts entgegenzusetzen.“ Nach drei Prozesstagen verurteilt das Detmolder Landgericht den Arbeitslosen am 28. Februar 2018 wegen Doppelmordes zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. Das Schwurgericht unter Vorsitz von Richter Karsten Niemeyer stellt auch die besondere schwere Schuld des Detmolders fest. Das heißt: Frühestens 2038 kann geprüft werden, ob der dann 73-Jährige, in etwas komfortablerer Sicherungsverwahrung statt in der JVA einsitzen wird. In der Urteilsbegründung sprach Richter Niemeyer von einem „der fürchterlichsten und schwersten Verbrechen seit Jahren in Lippe“. Der Angeklagte sei voll schuldfähig, die Wiederholungsgefahr „greifbar“. Ende 2018 lehnte der Bundesgerichtshof in Karlsruhe eine Überprüfung des Urteils, die der Verteidiger des 53-Jährigen beantragt hatte , ab – damit war der Schuldspruch rechtskräftig.

Mustafa Yilmaz hat den Prozess und die Berichterstattung intensiv verfolgt und ist zufrieden mit dem Urteil: „Ich hoffe, die beiden sind jetzt an einem Ort, an dem sie keine Monster und Ungeheuer mehr treffen.“
Fotos: Bernhard Preuss