Sven* ist 1,85 Meter groß, wiegt 120 Kilo, hat breite Schultern und kräftige Hände. Nur die sanfte Stimme des 45-Jährigen passt so gar nicht zu seinem Erscheinungsbild. Es ist schwer zu glauben, dass dieser Mann seit 1997 von seiner Frau, die er „als mindestens einen Kopf kleiner und sehr zierlich“ beschreibt, verprügelt wird. Doch die Bilder, die er vor und nach seinen Arzt- und Krankenhausbesuchen per Handy gemacht hat, zeigen seinen verbundenen Oberarm, seine geschwollenen Augen, Lippen sowie eine blutige Nase. „Ich habe den Medizinern erzählt, dass ich die Treppe runtergefallen bin oder mich in der Werkstatt verletzt habe. Die Misshandlungen durch meine Frau habe ich verschwiegen, weil ich mich so geschämt habe“, sagt Sven.
Der 100. Rauswurf
Nach 23 Ehejahren habe ihn seine Frau vor einigen Wochen rausgeworfen, weil sie sich genervt gefühlt habe. „ Es war bestimmt der 100. Rauswurf in den vergangenen Jahren, aber so kurz vor Weihnachten blutet mir das Herz und in Gedanken bin ich bei unseren fünf Kindern. Von mir aus wäre ich nie gegangen, trotz der Demütigungen, Schläge und Beschimpfungen – ich liebe meine Familie“, sagt er leise. Nach dem Rausschmiss schläft er mehrere Wochen im Auto, einem VW Lupo, und hofft, dass sich die Haustür wieder öffnet, doch vergebens. In seiner Not ruft er die Telefonseelsorge an. „Zum ersten Mal habe ich über meine Lage gesprochen – es war wie eine kleine Befreiung“, erinnert er sich. Ermutigt durch das Gespräch sucht er Hilfe beim Opferschutzverein Weißer Ring Lippe, erstattet Anzeige bei der Polizei wegen gefährlicher Körperverletzung gegen seine Frau und findet Obdach im Pfarramt seiner Kirchengemeinde. „Ohne die Unterstützung wäre ich verloren gewesen. Jetzt habe ich eine neue Wohnung, die ich mit Möbelspenden eingerichtet habe“, freut sich Sven. Nach Jahren könne er endlich wieder in einem Bett schlafen und müsse nicht Sofas oder im Auto übernachten.
Als der Lemgoer seine Frau 1997 in einer Disko kennenlernt, findet er sie überschäumend, schillernd, faszinierend. Sie scheint nicht zu bremsen zu sein, und das gefällt ihm. Nach neun Monaten läuten die Hochzeitsglocken. Doch ihre Energie entlädt sie bald in stundenlangen Diskussionen, für die sie ihn sogar nachts wachrüttelt. Die ewig gleichen Vorwürfe, dass er zu wenig verdiene als Kfz-Mechaniker und sie ein anderes, luxuriöses Leben wolle, füllen den Raum und vergiften das Zusammenleben. Will er dem entfliehen, verstellt sie ihm den Weg aus der Tür, schlägt schreiend auf ihn ein. Ein regelrechter Faustregen prasselt auf ihn nieder. Sven versucht sich mit Armen und Händen zu schützen. Trotzdem trifft ihn ein harter Schlag mitten ins Gesicht, die Nase knackt, ihm wird schwindlig. Er hofft, dass die Kinder nicht aufwachen, denn er möchte ihnen diesen Anblick ersparen. Zu oft wurden sie schon Zeugen dieser hässlichen Szenen. „Ich konnte mich nicht wehren oder zurückschlagen, weil ich meine Frau trotz allem liebte“, sagt Sven. Um weitere Eskalationen zu vermeiden, sei er in den folgenden Jahren immer wieder „freiwillig in den Lupo gegangen und auch die Kinder sagten schon ,Lupo Time‘, wenn meine Frau schlechte Laune hatte“, erinnert sich Sven.

Niemand weiß, wie vielen Männern es ebenso geht wie Sven – aber es gibt sie. Nur wenig outen sich, wenn ihre Partnerin sie schlagen oder permanent psychisch unter Druck setzen. Sie schämen sich und fürchten, „als Weichei“ stigmatisiert zu werden. „Kein Wunder“, sagt Dagmar Bothe, die den Weißen Ring in Lippe leitet. Denn als Mann, der Gewalt erlebe, kämpfe man mit dem Klischee und mit der Statistik. Das Klischee sei das von der Nudelholz schwingenden Hausfrau. Es sei eines, das viele eher zum Schmunzeln als zur Sorge anrege. Und statistisch gesehen, sei es wahrscheinlicher, dass der Mann zuschlage. Dazu komme, dass die meisten Männer ihren Frauen körperlich überlegen seien. Es falle deshalb schwer, sie als Opfer zu begreifen. Bothe fordert Beratungsstellen für männliche Gewaltopfer – nachdem Vorbild der Frauenhäuser, denn die Dunkelziffer sei enorm hoch.
„Eine solche Einrichtung hätte ich gebraucht“, sagt Sven. Die jahrelangen Gewaltausbrüche seiner Frau tun ihm nicht nur körperlich und seelisch weh, auch die Auswirkungen auf sein sonstiges Leben sind enorm. Er berichtet, wie er sich von seiner Verwandtschaft zurückzog sowie seine Freunde und Bekannten verlor. Wie er mit Gesichtsverletzungen in die Firma kam und Kollegen scherzten: „Na, hat dich deine Frau geschlagen?“ Wie er sich zu Hause nur noch als „gehasster Gast“ fühlte, keinen sicheren Rückzugsort mehr hatte. Immer wieder habe ihn seine Ehefrau vor die Tür gesetzt, während einer Urlaubsfahrt an der Autobahn aus dem Pkw geworfen, mit Messern angegriffen, Treppen heruntergestoßen und Affären mit anderen Männern gehabt. „Mehr Demütigung und Gewalt geht eigentlich nicht, doch wenn sie wollte, bin ich wieder zurück und habe ihr vergeben“, sagt Sven mit gesenktem Blick.
Keine schmutzigen Gerichtsverfahren
Heute, gut drei Monate nach der anscheinend endgültigen Trennung, kämpft sich der 45-Jährige zurück ins Leben. Er knüpft wieder Kontakt zu alten Freunden, Bekannten und arbeitet als Lkw-Fahrer. „Doch die Vergangenheit kann ich nicht einfach so abschütteln, denn ich stehe vor der Entscheidung, mein Recht einzufordern, damit ich die Kinder sehen darf“, sagt Sven. Er wolle keine unendlichen und schmutzigen Gerichtsverfahren, er werde, wenn es dem Frieden diene auf sein Besuchsrecht verzichten und Unterhalt bezahlen. „Ich hoffe, dass meine Kinder, wenn sie älter sind, wieder zu mir finden und verstehen, wieso ihr Vater sie verlassen musste, und dass er sie trotzdem immer geliebt hat und gerne Teil ihres Leben gewesen wäre“, sagt Sven, greift nach einem Taschentuch, dreht sich um und blickt aus dem Fenster.
Ein solcher Extremfall von weiblicher Gewalt ist auch für die 65-jährige Bothe nicht alltäglich: „Wir haben ihm einen Anwalt zur Seite gestellt, der sich seiner Sache annimmt.“ Dennoch, und das liegt der früheren Lehrerin besonders am Herzen, dürfe man bei Berichten über schlagende Frauen nicht versuchen, sie mit männlicher Gewalt an Frauen gleichzusetzen. „Unsere Geschichte und unsere Kultur ist noch immer so männlich dominiert, dass viel mehr Frauen von ihren Lebenspartnern verprügelt, misshandelt oder gar getötet werden als umgekehrt“, sagt Bothe.
*Name geändert