Lastminute-Termin

Meine Haare sind kaum noch zu zähmen – beim täglichen Gang zum Briefkasten am heutigen Vormittag treffe ich meine Nachbarin. Sie blickt auf meinen Kopfputz: „Bei Ihnen wird’s aber auch mal wieder Zeit.“ Ich nicke: „Ja, aber leider keinen Termin bekommen.“ Ich berichte ihr, dass das Telefon meines Stammfriseurs, Hüseyin Saridag, der seit 13 Jahren das „La Saner“ an der Detmolder Bruchstrasse führt, dauerbesetzt ist. Sogar mein persönliches Vorsprechen am Vortag – verbunden mit der Hoffnung, dass ich eventuell in eine der letzten freien Terminlücken schlüpfen kann, blieb erfolglos. Meine Anfrage quittierte Ebru Saridag, Ehefrau des Friseurs, mit einem Lächeln und hielt mir wortlos drei Din-A4-Seiten voller Namen und Uhrzeiten entgegen. „Alles voll“, sagte sie und setzte mich auf die Warteliste. „Sei nicht böse, wenn’s nicht klappt“, fügte Ebru hinzu und begleitete mich zur Tür. „Oh je, Sie armer Kerl“, kommentiert die Nachbarn meinen erfolglosen Versuch. Ich streiche mir über den Kopf, verabschiede mich und nehme jede zweite Stufe, der insgesamt 40 Absätze, um vor ihren mitleidigen Blicken in meine Wohnung zu flüchten. Ich rufe weitere Friseure an, doch keine Chance – es gibt keine freien Termine, alles voll. Am Nachmittag klingelt mein Handy – es ist Ebru. „Wir haben einen Termin um 20 Uhr für Dich.“ Ich bin überrascht und bevor ich antworten kann, schiebt sich hinterher: „Du musst dich jetzt entschieden, sonst wird der Termin anderweitig vergeben“, sagt sie etwas ungeduldig. Ich stimme zu. Der Salon hat an diesem Dienstag, einen Tag vor der knapp vierwöchigen Schließung, bis 21.30 Uhr geöffnet, denn ab 22 Uhr gilt die Ausgangssperre in Lippe.

Coiffeur Hüseyin Saridag bei der Arbeit.

„Wir waren bis Weihnachten ausgebucht und haben diese Termine auf Montag und Dienstag gelegt, daher die Verlängerung der Öffnungszeiten“ sagt Coiffeur Hüseyin. Der 46-Jährigen und seine zwei Mitarbeiterinnen, Verena Petzold und Katharina Krober, arbeiteten unter Einhaltung der Hygieneregeln auf Hochtouren, um die Kunden chic fürs Fest zu machen. Schutzmasken, Datenangaben und Desinfektion jedes Platzes sind Pflicht – Laufkundschaft, Trockenhaarschnitte sowie ein Kaffee oder die gewohnten Zeitschriften sind tabu.

Er habe seine Kunden in den zurückliegenden Wochen und Monate sehr verantwortungsbewusst erlebt, betont Hüseyin. Schon beim kleinsten Schnupfen hätten sie bestehende Termine abgesagt, um niemanden zu gefährden. „Die letzten zwei Tage waren etwas stressig, aber wir hoffen auf Verständnis und auch darauf, dass in den nächsten Wochen alle die Maßnahmen gut mitmachen, damit es im Januar weiter gehen kann“, fügt er hinzu. Er hoffe sehr, dass er im Januar die Salontüren wieder öffnen dürfe. Am 5. Januar wollen sich die Länder-Chefs wieder mit Bundeskanzlerin Angela Merkel treffen, um über die Corona-Maßnahmen ab dem 11. Januar zu entscheiden. Es ist 20.30 Uhr als mir Verena den Friseurumhang abnimmt, sie hält den Handspiegel an meinen Hinterkopf, ich nicke und blicke hinüber zu den drei wartenden Kunden. Ich möchte sicherheitshalber gleich einen Termin in der Woche nach dem voraussichtlichen Lockdown-Ende machen, doch Ebru lächelt wieder: „Alles voll, aber ich setz‘ Dich auf die Warteliste.“
Fotos: Bernhard Preuss plus ein Selfie

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