Missbrauch in Lügde und kein Ende des Leids

„Wir haben hier Kinder erlebt, die sich selbst verletzen, unter Albträumen und Angstzuständen leiden. Sie haben die Kindheit der 32 Opfer zerstört“, mit diesen Worten wandte sich Richterin Anke Grudda während der Urteilsbegründung an die beiden Angeklagten im Missbrauchsprozess von Lügde. Andreas V. und Mario S. wurden zu 13 und 12 Jahren Haft plus Sicherungsverwahrung verurteilt, weil sie sich rund 450 Mal an Mädchen und Jungen vergangen hatten – das jüngste Opfer war erst vier Jahre alt. Die meisten Taten hatten die Männer in der heruntergekommenen Unterkunft von Andreas V. auf einem Campingplatz in Lügde begangen – über einen Zeitraum von 15 bis 20 Jahren. Während die juristische Aufarbeitung des Missbrauchsskandals vor knapp 18 Monaten mit den Schuldsprüchen vorläufig endete und auch Oberstaatsanwalt Ralf Vetter aktuell keine weiteren Ermittlungsansätze im „Lügde-Komplex“ erkennen kann, geht das Leid für viele Opfer weiter.

Der Angeklagte Andreas V. versteckt sein Gesicht – daneben sein Anwalt Johannes Salmen. Archivbild: Bernahrd Preuss


„Nur wenige Missbrauchsopfer haben bisher ausreichende Therapieangebote erhalten und nur sehr geringe oder gar keine Entschädigungen vom zuständigen Landschaftsverband Westfalen-Lippe erhalten“, kritisiert Dagmar Bothe vom „Weißen Ring“ Lippe, die insgesamt 14 Opfer betreut. Durch die Verzögerungen werde ein fatales Signal von Ignoranz und Gleichgültigkeit in Richtung der Kinder, Jugendlichen und Eltern gesendet. Auf Anfrage schweigt der Landschaftsverband Westfalen-Lippe und will die Begründung für die Verzögerungen nachliefern – ein Zeitpunkt wird nicht genannt. Dagegen teilt der Kreis Lippe mit, dass Landrat Dr. Axel Lehmann Briefe an die betroffenen Familien verschickt habe, in denen er über Beratungsmöglichkeiten sowie therapeutische Unterstützung, sowohl vom Kreis als auch von anderen Anbietern, informiert habe. Eine schöne Geste, aber unzureichend, meint Opferhelferin Anke Heldt vom „Weißen Ring“ Schaumburg, die fünf Lügde-Missbrauchsopfer und deren Familien aus dem Raum Rinteln und Lemgo betreut: „Bisher konnten nur zwei Mädchen an einer kurzen Reittherapie teilnehmen und es ist kein Cent Entschädigung geflossen. Dies ist ein Schlag ins Gesicht aller Opfer.“ Zudem sehe sie nicht, dass der „Fall Lügde“ abgeschlossen sei, da immer wieder neue, schreckliche Missbrauchsfälle, die vor allem „in Zusammenhang“ mit dem 58-Jährigen Andreas V. stünden, an die Öffentlichkeit gelangten.

Göttinger Angeklagter war unter den Zuschauern im Detmolder Gerichtssall

So werde derzeit gegen einen Familienvater aus dem Kreis Northeim wegen Kindesmissbrauchs ermittelt, der als Nebenkläger im Lügdeprozess aufgetreten sei, und am Landgericht Göttingen laufe seit dem 3. September vergangenen Jahres ein Prozess gegen einen 49-Jährigen, der sich wegen sexuellen Missbrauchs in 28 Fällen verantworten muss. „Beide, der Angeklagte und der Beschuldigte, standen in Kontakt mit Andreas V. waren im Lügdeprozess auch unter den Zuschauern im Gerichtssaal“, erinnert sich Heldt. So soll der 49-jährige Angeklagte laut Göttinger Staatsanwaltschaft fünf Mädchen im Alter zwischen sechs und 13 Jahren, sowohl leibliche als auch nicht leibliche Kinder, zwischen 2016 und 2019 teils schwer sexuell missbraucht haben. Die Taten soll er nicht auf dem Campingplatz, sondern an anderen Orten begangen haben.
Fahnder hatten den 49-Jährigen, der vier Kinder hat und Schweizer ist, im Zuge der Ermittlungen zum Kindesmissbrauch in Lügde festgenommen – er soll ein Bekannter von Andreas V. sein. Zunächst wurde der Schweizer als Zeuge verhört und rückte schließlich selbst in den Fokus. Bei einer anschließenden Hausdurchsuchung im März 2020 stießen die Ermittler auf 43 Datenträger. Die gefundenen Videos und Bilder erhärteten den Verdacht gegen den Mann, selbst Kinder und Jugendliche missbraucht zu haben, so der Göttinger Oberstaatsanwaltschaft Andreas Buick.
Die mutmaßlichen Opfer sind heute zwischen 9 und 16 Jahren alt und treten in dem Verfahren als Nebenkläger auf, eine Aussage vor Gericht bleibt ihnen nicht erspart, da der Angeklagte nicht geständig ist. „Die Öffentlichkeit wird vom gesamten Prozess ausgeschlossen – zum Schutz der Kinder“, teilt Landgerichtssprecher Marc Eggert mit.

Schweizer lernte Andreas V. bei Kindergeburtstag kennen

Erschütternd das Schicksal eines zehnjährigen Mädchens aus Blomberg. Das Kind soll sowohl von Andreas V. als auch von dem Angeklagten missbraucht worden sein soll und inzwischen in einer Jugendhilfe-Einrichtung lebt. Die Mutter des Opfers lernte Andreas V. 2017 kennen, als sie Hilfe für die Kinderbetreuung gesucht habe. Der Dauercamper habe sich gemeldet, man habe sich gut verstanden. Ihre Tochter habe sich mit der Pflegetochter von Andreas V. angefreundet und sei dann häufiger, auch über Nacht auf dem Campingplatz gewesen. Dass er ein „Kinderschänder“ sei, habe sie nicht geahnt. Auf dem Geburtstag ihrer Tochter in Lemgo sollen sich Andreas V. und der 49-Jährige, die beiden sollen in Begleitung von Pflege- und Stieftochter gekommen sein, kennengelernt haben. „Auf Kindergeburtstagen und über Betreuungsanzeigen haben viele Eltern aus der Region Andreas V. kennengelernt, der dabei seine Pflegetochter immer wieder als Lockvogel benutzt hat“, erklärt Opferhelferin Anke Heldt. Sie halte es für möglich, dass die Kinder schon vor der Verhaftung des Dauercampers im Dezember 2018 von den Übergriffen berichtet haben könnten, doch die Eltern ihnen nicht geglaubt und die Erzählungen als „Märchen“ abgetan hätten. Eines seiner Opfer, eine heute 20-Jährige habe bereits im Alter von 15 Jahren Missbrauchsandeutungen gemacht, die seien aber nicht ernst genommen worden. Anschließend habe auch ihre jüngere Schwester immer wieder Andreas V. auf dem Campingplatz besucht. „Aber ich glaube nicht, dass Eltern den Missbrauch ihrer Töchter aktiv unterstützt haben“, betont Heldt. Einige Eltern sollen bei einem Treffen mit den Beamten der Ermittlungskommission „Eichwald“ Missbrauchsandeutungen ihrer Kinder in den vergangenen Jahren eingeräumt haben, doch immer wieder damit argumentiert haben, dass ihnen sonst ja die „Wochenendbetreuung“ weggefallen wäre. „Es gab in der Vergangenheit schon Hinweise. Wenn diese ernst genommen worden wären, wäre Andreas V. schon viel früher verhaftet werden können“, glaubt Opferhelferin Heldt.
Am zweiten Verhandlungstag im Prozess gegen den 49-jährigen Schweizer wurde Andreas V. als Zeuge vor dem Göttinger Landgericht gehört – Prozessbeteiligte bezeichneten die Aussagen des 58-jährigen Dauercampers als wertvoll, da das Gericht so einen Eindruck über Dinge bekommen habe, über die sich die beiden ausgetauscht hätten. Eine Prozessende ist derzeit auch nach 17 Verhandlungstagen nicht absehbar. „Die Kammer hat nach derzeitigem Stand weitere zehn Fortsetzungstermine bis zum 14. April vorgesehen“, so Landgerichtssprecher Eggert.

Politiker untersuchen Mitschuld von Behörden

Der „Fall Lügde“ ist einer der größten Missbrauchsfälle in Deutschland, der Ende 2018 aufgedeckt wurde. Die beiden Täter Andreas V. und Mario S. wurden im September 2019 zu langen Haftstrafen samt anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden. Sie hatten über Jahre mehr als 32 Kinder sexuell missbraucht, die Übergriffe gefilmt und Liveübertragungen des Missbrauchs angeboten. Unter den Opfern ein Mädchen, das Andreas V. vom Jugendamt Hameln-Pyrmont in Niedersachsen als Pflegetochter zugesprochen worden war. Immer wieder verhinderten Behördenpannen eine frühzeitige Verhaftung der Täter. Die Staatsanwaltschaft Detmold hatte mehreren Polizisten und Mitarbeitern zweier Jugendämter vorgeworfen, Hinweise verschleppt und Zeugenaussagen ignoriert zu haben. Im März vergangenen Jahres wurden die Ermittlungsverfahren eingestellt, weil die Ermittlungen nicht zu einem hinreichenden Tatverdacht geführt hätten, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Die Vorwürfe gegen die Behörden werden derzeit durch einen Untersuchungsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags aufgearbeitet.
Fotos: Bernhard Preuss

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