Nach dem Bericht über Vanessa Pivit, Erzieherin, Trauerbegleiterin sowie Leiterin der Gesprächsgruppe „Sternenkinder“, melden sich Jan* und Sabine* – die vor fünf Jahren ihre Tochter Gina verloren haben. Sie möchten die Geschichte ihres Sternenkindes anonym erzählen. Wir telefonieren und treffen uns anschließend zum Spaziergang im Detmolder Palaisgarten. Die beiden haben inzwischen zwei gesunde Söhne, Max* und Ole* im Alter von vier und drei Jahren, die mit ihren Schlitten an dem sonnigen Schneetag die Hügel hinaufklettern. Jan und ich stellen und etwas Abseits, während die Kinder mit Mama Sabine, die Schlitten in Abfahrtsposition bringen.
„Wir sind jetzt eine glückliche vierköpfige Familie, aber eigentlich sind wir fünf, denn Gina gehört dazu, obwohl sie nicht mehr unter uns ist“, korrigiert sich Jan. Für werdende Eltern gebe es kaum eine schlimmere Vorstellung, wenn das Kind, das im Mutterleib heranwachse und auf das man sich so freue, sterbe vor, während oder kurz nach der Geburt. Ein solcher Schicksalsschlag könne das Vertrauen ins Leben stark erschüttern. „Es schien uns unmöglich, den Verlust zu verkraften und in den Alltag zurückzukehren“, erinnert sich Orchestermusiker Jan und winkt dem Nachwuchs zu, die nach ihrem Papa verlangen.
Ein absoluter Albtraum
Die erste gemeinsame Tochter von Jan und Sabine sollte Gina heißen. Mehr als fünf Jahre ist es her, dass sie sich auf ihre Geburt freuten. Die Schwangerschaft verlief normal: Eine gesunde Mutter erwartete ein gesundes Kind. In der Julinacht 2015, es ist ein Dienstag, kommen pünktlich die Wehen, doch während der Geburt wird klar: Gina lebt nicht. Das Mädchen ist bereits zwei Tage vorher verstorben – ohne erkennbaren Grund. „Sie ist morgens um 7.30 Uhr auf die Welt gekommen, und um kurz vor drei haben wir dann die Klinik verlassen mit dem leeren Maxi Cosi“, erinnert sich Sabine, die sich inzwischen zu mir gesellt hat. Mit gesenktem Blick redet sie weiter. „Das ist ein Moment, an den ich mich noch ganz stark erinnere. Wir standen auf dem Treppenabsatz, und ich habe gesagt, das ist jetzt mein absoluter Albtraum, also das war immer das Schlimmste, was man sich vorstellen konnte. Und dann gingen die Türen auf, und die Welt hat sich einfach weitergedreht“, sagt Sabine, ballt den Schnee in der Hand und schleudert ihn gegen einen dicken Baumstamm im Palaisgarten. Sie atmet tief durch, dreht sich zu den Söhnen, die keine Lust mehr auf Schlitten haben und mit anderen Kindern einen Schneemann bauen.
Große Schuldwürfe
Statt mit dem gemeinsamen Kind nach Hause zu kommen, gehen Sabine und Jan ins Bestattungsinstitut, um Formalitäten zu klären. In den ersten Wochen nach Ginas Geburt steht die Welt der beiden still. Sie igeln sich ein, sind zu verletzlich, um das Haus zu verlassen. Sabine fühlt sich fremd im eigenen Körper und Jan trauert auf seine Weise mit Gitarre im Garten: „Ich habe Musik gemacht, dann ganz angefangen den Garten umzugraben, um Gina bei uns im Garten zu finden. Und zwar dadurch, dass das Grün einfach so viel Leben hat.“
Warum Gina sterben musste, weiß niemand. Die Ärzte konnten keine Ursache feststellen. Doch dass es auf die Frage nach dem Warum nie eine Antwort gab, hat ihnen den Abschied besonders schwer gemacht. „Sogar wenn Du weißt, dass Du eigentlich nichts dafür kannst, haderst Du immer wieder und denkst – habe ich zu lang gearbeitet? Habe ich zu viel Kaffee getrunken, zu viel Schokolade gegessen? War ich zu wenig auf den Beinen oder zu viel? Habe ich falsch gelegen? Man kommt da auf die absurdesten Ideen, an was es hätte liegen können“, sagt die Grundschullehrerin Sabine.
Hilfe und Trost in der Trauergruppe
Die beiden suchen Hilfe und Trost in einer Trauergruppe für verwaiste Eltern. Immer wieder habe Sabine gefragt: „Wird dieser Schmerz irgendwann wirklich besser, kann ich irgendwann wirklich damit leben? Sie habe immer wieder gefragt und nach einer Antwort gelechzt, dass eine Gesprächsteilnehmerinnen sagt: „Es wird besser.“ Doch niemand habe ihr geantwortet. Mit Familie, Freunden und Bekannten konnten Sabine und Jan oft nicht gut über ihren Verlust reden. „Für Außenstehende ist es schwer nachzufühlen, wie es betroffenen Eltern geht – denn keiner kannte den kleinen Menschen, der da fehlt,“, sagt Sabine mit gesenktem Kopf und plötzliche landet ein Minischneeball auf ihren Schoß, abgefeuert von Max, der sich hinter einem Baumstamm versteckt. Sabine steht auf und versucht ihn hinter dem Baum zu fangen.
Mit Luftballon und Bild am Grab
Doch Sabine, die schwer mit dem Verlust ihrer Tochter Gina zu kämpfen hatte, fand erst Halt, als sie erfuhr, dass sie wieder schwanger ist: Der kleine Max war auf dem Weg. Doch die Schwangerschaft war überschattet von dem, was gut ein Jahr vorher geschehen war. „Dadurch, dass wir Gina erst bei der Geburt verloren haben, konnten wir nicht sagen: So, jetzt haben wir die zwölfte Woche geschafft, oder jetzt sind wir über die 22. Woche. Sondern es war klar, wir müssen bis zum Schluss durchhalten“, sagt der 36-jährige Jan und beobachtet Mutter und Söhne beim Fangenspielen im Schnee. Und erst, als Max nach der Geburt schrie, dann war für die beiden der Moment gekommen, wo sie sagen konnten, er ist wirklich da. „Und so war es dann auch“, sagt Jan.
Heute, mehr als fünf Jahre nach Ginas Tod, plus zweiten Sohn Ole – können Sabine und Jan nicht nur wieder lachen, sondern Glück empfinden. Für Sabine war das eine ganze Zeit lang nicht vorstellbar. „Das war die größte Angst, dass nur der Körper überlebt und alles, was die Seele und das Herz ausmacht, gestorben ist. Dass alles für immer grau bleibt. Aber ich habe das Lachen wieder“, sagt die 35-Jährige. Inzwischen haben die beiden geheiratet, zwei gesunde Söhne und immer im Juli lassen sie an Ginas Grab einen Luftballon samt gemalten Bild in den Himmel steigen. Die Vier verabschieden sich, klettern auf den Hügel, nehmen auf dem Schlitten Platz und flitzen herunter.
*Namen geändert