Den lippischen Landtagsabgeordneten Jürgen Berghahn lässt der monströse Fall des Kindesmissbrauchs in seiner Heimat nicht mehr los. Er hat inzwischen zehntausende von Aktenseiten studiert. Der Sozialdemokrat sitzt seit 2010 im Düsseldorfer Landtag. Dreimal wurde der 60-Jährige in seinem Wahlkreis Lippe II, dazu gehört auch Lügde, der Ort, dessen Name fast zum Synonym für Kindesmissbrauch wurde, direkt ins Landesparlament gewählt. Seit der Festnahme der Haupttäter im Dezember 2018 ist für den gelernten Elektroinstallateur alles anders – er sitzt im Lügde-Untersuchungsausschuss des Landtags und ist dort Sprecher der SPD.
Herr Berghahn, zu Beginn des Lügde-Prozesses im Juni 2019 betonte die Vorsitzende Richterin, dass es vor Gericht um die strafrechtlichen Aspekte des jahrelangen Missbrauchs gehe, um das möglichen Versagen von Polizei und Jugendämtern müssten sich andere Stellen kümmern. Sie sitzen jetzt seit knapp 18 Monaten im Untersuchungsausschuss des NRW-Landtags zu Lügde – haben Sie eine Antwort?
Jürgen Berghahn: Nein, wir sind noch mitten drin und haben drei Schwerpunktbereiche, die wir derzeit untersuchen. Dies sind die Jugendämter, die Polizei und die übergeordneten Behörden, dazu gehören das Landeskriminalamt sowie das Innen- und Justizministerium. Die beiden Unionsminister Herbert Reul und Peter Biesenbach werden wohl Ende des Jahres gehört.
Das hört sich nach einem langem Weg an… Wie viele Zeugen hat der Ausschuss bisher vernommen?
Berghahn: Ist es auch – wir haben bisher rund 40 Zeugen gehört, darunter Mitarbeitende der Jugendämter Lippe und Hameln-Pyrmont, Polizeibeamte und auch Politiker. Auf der Zeugenliste für dieses Jahr stehen noch 60 bis 70 Personen. Aber die Liste muss immer wieder erweitert werden, da wir mit überraschenden Aussagen konfrontiert werden.

Können Sie mal ein Beispiel nennen?
Berghahn: So haben während der vergangenen Sitzung Mitarbeiterinnen des Jugendamtes Höxter eingeräumt, dass Akten, die im Zusammenhang mit dem zweiten Lüdge-Haupttäter Mario S. standen, nach dessen Verhaftung bearbeitet wurden. Da kann man nur mit den Kopf schütteln. Sollten tatsächlich ungerechtfertigte Änderungen in den Akten vorgenommen worden, ist dies ein Fall für die Ermittlungsbehörden.
Die Staatsanwaltschaft Paderborn wartet auf eine Anzeige?
Berghahn: Die wird auch kommen, wenn letzte Fragen geklärt sind.
Meinen Sie, dass diese beantwortet werden?
Berghahn: Ich hoffe doch, denn wir wollen und müssen im Lügde-Komplex alle Abläufe offen und transparent darlegen.
Immer wieder haben Zeugen vor dem Ausschuss die Aussage verweigert, obwohl die Detmolder Staatsanwaltschaft alle Ermittlungsverfahren gegen Mitarbeitende der Jugendämter in Hameln-Pyrmont und des Kreises Lippe sowie gegen Polizeibeamte eingestellt hat – wie finden Sie das?
Berghahn: Ich akzeptiere das, weil das Zeugnisverweigerungsrecht in einem Rechtsstaat für alle gilt. Wir haben nun hier eine besondere Situation, viele Zeugen sind oder waren Mitarbeitende der Jugendämter, sie haben eine Schutzverantwortung gegenüber Kindern, Jugendlichen und Familien. Hier muss das Wohl der Kinder über dem Selbstschutz der Mitarbeiter stehen – die Zeugen müssen zum Wohle der Kinder über ihre Schatten springen und auch mal Fehler einräumen. Doch manche, wie im Jugendamt Hameln-Pyrmont, sind taub auf diesem Ohr, daher sind wir vors Oberlandesgericht Düsseldorf gezogen.
Mit welchem Ausgang?
Berghahn: Das Gericht urteilte, dass zwei Mitarbeiterinnen des Jugendamtes Hameln-Pyrmont die Aussage vor dem Untersuchungsausschuss nicht vollständig verweigern dürfen. Gegen die Zeuginnen wurde ein Ordnungsgeld in Höhe von je 150 Euro verhängt. Sie wurden erneut geladen und befragt.
Warum wollten Sie unbedingt in den Untersuchungsausschuss?
Berghahn: Ich bin lippischer Abgeordneter, Lügde und auch der Campingplatz liegen in meinem Wahlkreis. Ganz viele Menschen haben mich angesprochen und gebeten, an der Aufklärung der schrecklichen Dinge mitzuarbeiten. Mir geht es um Aufklärung, warum diese schrecklichen Dinge nicht eher aufgefallen sind und was muss man verändern, dass so etwas nicht mehr passieren kann. Ich werde regelmäßig darauf angesprochen, aber zum Glück nicht so häufig wie der Lügder Ex-Bürgermeister Heinz Reker, der immer und überall auf den Missbrauchsfall angesprochen worden ist. Er und seine Verwaltung hatten mit den Thema ja überhaupt nichts tun, da es dort kein Jugendamt oder eine Polizeiwache gibt, sondern nur ein Büro des Bezirksbeamten.
Mit Hassmails muss man als Politiker leben
Herr Reker hat auch Hassmails und Morddrohungen erhalten, wurde Sie mit so etwas konfrontiert?
Berghahn: Nein, nicht so schlimm wie bei dem Ex-Bürgermeister. Mit Hassmails muss man als Politiker leben.
Kannten Sie den Haupttäter Andreas V.?
Berghahn: Nein. Ich war in den vergangenen Jahren in Lügde und Elbrinxen auf zahlreichen Veranstaltungen, aber er ist mir nie aufgefallen. Ich wusste, dass dort ein Campingplatz ist, habe den Platz erst durch den Missbrauch bewusst wahrgenommen.
Im Gegensatz zu Ihnen kannten Andreas V. ganz viele auf dem Campingplatz und im Ort, den ja viele als „bunten Hund“ bezeichneten, der überall mit angepackte. Deshalb mutet es seltsam an, dass niemand etwas von diesen vielen Missbrauchsfällen, die über Jahrzehnte gingen, etwas mitbekommen haben will – was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie das hören?
Berghahn: Das ist wirklich unglaublich. Aber ich habe auch in den vergangenen 18 Monaten gelernt, dass es zur Strategie beider Täter gehörte, als die freundlichen, netten Nachbarn und Helfer in Erscheinung treten, um eben Kontakte zu Eltern und Kindern zu knüpfen. Ein Experte hat mir erklärt, dass Pädophile immer dort hingehen, wo sie neue Opfer finden können. Dazu gehören Kinderspielplätze, Kitas, Freibäder und Freizeitzentren, wo ein Spielplatz dran ist, immer da wo Kinder leicht zu treffen sind. Er hatte einen optimalen Lockvogel mit der kleinen Pflegetochter. Diese schreckliche und teuflische Strategie ist leider aufgegangen.
Wissen Sie welchen familiäre Hintergrund, die vielen Opfer haben?
Berghahn: Wir haben uns bisher vor allem um Andreas V. und seine Verwicklungen gekümmert. Nun ist der zweite Täter Mario S. in den Fokus gerückt. Aber ich bin mir sicher, dass wir bisher nur die Spitze des Eisbergs sehen.
Sie gehen also davon aus, dass es weitere Mittäter und Opfer im Lügde-Missbrauchskomplex gibt?
Berghahn: Auf jeden Fall. Im Nachzug des Lügde-Missbrauchsfalls laufen ja bereits Ermittlungen in Northeim und ein Prozess in Göttingen.
Um nochmal auf meine Frage zu kommen, gibt es Gemeinsamkeiten unter den Opfern?
Berghahn: Ich sage es mal so – schon bevor sie auf die Täter trafen, lebten sie in schwierigen Lebensverhältnissen und nach den schrecklichen Erlebnissen auf dem Campingplatz hat sich ihre Lebenssituation nochmals verschärft.

Trägt dazu auch das Verhalten Behörden-Mitarbeitenden bei, die Akten fälschen, um Fehler zu vertuschen, Beweismittel bei der Polizei einfach so verschwinden und ganz viele Verantwortliche im Ausschuss-Zeugenstand im Beisein ihrer Rechtsanwälte unendliche Gedächtnislücken haben?
Berghahn: Dies möchte ich nicht ausschließen. Solch ein Verhalten ist auch für mich und meine Kollegen erschütternd und völlig inakzeptabel. Ich will jetzt nicht soweit gehen, dass Unterlagen gefälscht worden sind.
Aber es gab Manipulationen an Akten im Jugendamt Hameln-Pyrmont, dies hat die Detmolder Staatsanwaltschaft festgestellt…
Berghahn: Das stimmt, dies hat an einigen Stellen auch zu personellen Konsequenzen geführt. Ich hatte den Eindruck, dass den Mitarbeitern nicht immer klar ist, dass Unterlagen, die in einer Behörde angefertigt werden und in einer Akte landen, später nicht einfach nach Belieben verändert werden können.
Sie haben auch die Rolle des Jugendamtes Lippe beleuchtet?
Berghahn: Nach den ganzen Akteneinsichten und Zeugenaussagen stellt es sich so dar, dass die Zuständigkeit im Fall der Pflegetochter von Andreas V. ganz eindeutig beim Jugendamt Hameln-Bad Pyrmont lag. Die hat auch eine Untersuchungskommission des Landkreises in Niedersachsen samt Sonderermittlerin in einem Bericht festgehalten.
Was steht da drin?
Berghahn: Dieser Bericht öffnet einem die Augen. Das rund 20 Mal drin, der Vorgang (Damit ist nicht nur die Unterbringung der Pflegetochter bei Andreas V. gemeint, sondern auch Meldungen von Familienhilfe, Kita usw. – Anmerk. d. Redaktion) ist nicht mit Lippe kommuniziert worden. Dieses Mädchen wohnte zwar auf einem lippischen Campingplatz, aber die Informationen, dass die Pflege an den Lipper Andreas V. übergegangen ist, erfolgte nicht ans lippische Jugendamt. Ende 2016 gab es eine Meldung auf Kindeswohlgefährdung von einer Mitarbeiterin des Jobcenters Lippe in Blomberg ans Jugendamt Lippe und die Polizei. Noch am selben Tag sind lippische Jugendamtsmitarbeiter zum Campingplatz gefahren und haben Andreas V. ermahnt, dass das Kind vernünftig gekleidet und die Unterkunft aufgeräumt werden muss.
Im Endeffekt hat es trotzdem nichts gebracht – das Mädchen musste weiter durch die Hölle…
Berghahn: Das stimmt. Aber das Jugendamt Lippe hat sofort reagiert und die Kollegen in Hameln-Pyrmont informiert. Hameln hat dann gesagt, dass sich die Behörde drum kümmert und ein paar Tage später die Rückmeldung gegeben, dass alles in Ordnung ist. Wenn die zuständige Behörde grünes Licht gibt, dann hätte ich es auch geglaubt. Man hätte vielleicht später von lippischer Seite noch mal nachgucken können. Aber von der Zuständigkeit war alles ganz sauber geregelt. Ich will nochmal betonten, dass wir sehr froh sind, dass es diese Mitarbeiterin im Blomberger Jobcenter gegeben hat. Sie hat auf ihr Bauchgefühl gehört – dies hätte ich mir im Fall Lügde auch von anderen Menschen gewünscht. Manchmal muss man einfach auf die innere Stimme hören, eine spätere Entschuldigung wegen falscher Verdächtigung ist besser, als die Augen zu verschließen.
Die Sache mit dem Koffer ist blamabel
Sie haben ja auch die Arbeit der lippischen Polizei unter die Lupe genommen – welche Note würden Sie der heimischen Behörde geben?
Berghahn: Eine Schulnote will ich nicht geben. Der lippischen Poliziei sind im Missbrauchsfall-Lügde Fehler passiert, dies ist eindeutig und glasklar.
Ich frage mal konkreter – hätte Sie sich vorstellen können, dass bei der Polizei einfach so ein Koffer mit Beweismitteln verschwindet…
Berghahn: Die Sache mit dem Koffer ist blamabel. In dem Verfahren selber, wurde ja von der Detmolder Staatsanwaltschaft betont, dass die fehlenden Asservate nicht zu weiteren Anklagepunkten geführt hätten, denn die vorhandenen Beweise würden ausreichen. Trotzdem stelle ich mir bis heute die Frage, ob auf den Datenträgern Hinweise auf weitere Täter und Opfer waren.
Aber die Polizei hatte ja schon vor Jahrzehnten Hinweise auf Andreas V. – eine heute 83-jährige Ex-Beamtin hat vor dem Ausschuss ausgesagt, dass…
Berghahn: Das stimmt, aber auch auf diese Zeugin und eine Ex-Staatsanwältin ist der Ausschuss erst nach intensivem Aktenstudium gestoßen. Die beiden haben ausgesagt, dass der Dauercamper bereits im Alter von 14 Jahren auf Schulhöfen Kindern pornografische Bilder gezeigt hat. Er war schon damals auffällig, aber niemand und keine Stelle hat im Laufe der Jahre das Puzzle, dessen erste Teile bereits 1977 an die Öffentlichkeit gespült wurden, mal zusammengefügt und ihm das Handwerk vor diesen schrecklichen Übergriffen gelegt.
Nach Lügde wurde die Polizeispitze in Lippe komplett ausgetauscht, der Landrat Dr. Axel Lehmann, ihr Parteifreund und Leiter der Polizeibehörde, musste viel Kritik einstecken, fanden Sie das gerechtfertigt?
Berghahn: Die Polizeidirektor wurde vom NRW-Innenminister ausgetauscht, auf den unteren Ebenen hat auch der Landrat reagiert und Personal gewechselt. Der Ausschuss konnte die Schritte nachvollziehen, da die lippische Polizeispitze nicht alle Informationen weitergeleitet hat – weder nach Düsseldorf noch ins Detmolder Kreishaus.
Fanden Sie die Kritik am lippischen Landrat gerechtfertigt?
Berghahn: Wir haben ihn ja in Düsseldorf vor dem Ausschuss sehr intensiv befragt. Wenn er es nicht belegt hätte, dass er seine Arbeit ordnungsgemäß gemacht hat, dann hätte es eine Reaktion gegeben. Wir haben da auf jeden Fall keine Nachweise, die auf ein Verschulden des Landrates hinweisen.

Nach Lügde wurden weitere Missbrauchsfälle in Bergisch-Gladbach und Münster aufgedeckt. Glauben Sie, dass diese Fälle erst durch Lügde so schnell aufgedeckt wurden, weil danach viel in Technik und Personal investiert wurde?
Berghahn: Das klingt schlimm, aber ohne Lügde hätte die Aufklärung der Fälle wahrscheinlich länger gedauert. Nach dem schrecklichen Missbrauch auf dem Campingplatz ist in NRW einiges in Gang gekommen – es wurde nicht nur in Personal und Technik investiert, sondern auch in Schulungen für Mitarbeitende der Jugendämter und Polizeibehörden angeboten. Und auch im Bereich der Zuständigkeiten hat sich vieles geklärt. Vor Lügde konnte die Polizei in Lippe selbstständig auch in umfangreichen Missbrauchsfällen ermitteln, jetzt müssen solche Fälle sofort an die höhere Behörde samt speziellem Apparat weitergeleitet werden.
Warum?
Berghahn: Weil die Datenmengen unglaublich groß sind, dass kann nicht mit dem Personalbestand einer Kreispolizeibehörde bewältigt werden. Künftig ist das Polizeipräsidium Bielefeld in solchen Fällen zuständig, da dort ganz andere personelle Kapazitäten vorhanden sind und dort Experten sitzen, die sich in diesem Bereich auskennen und Erfahrung haben.
Kommt der Untersuchungsausschuss bis zum Ende der Legislaturperiode im Mai 2022 zu einem Ergebnis?
Berghahn: Wir müssen bis zum Ende der Legislatur fertig werden und einen Bericht abgeben. Eventuell muss die Arbeit auch über die Legislatur fortgeführt werden. Für mich ist klar, dass wir erst die Spitze des Eisberges sehen, da kommt noch mehr durch die Ermittlungen der Polizei zutage.
Sie wären dann auch wieder dabei?
Berghahn: Ich würde gerne wieder dabei sein, um die Wunden, die dieser schreckliche Missbrauchsfall meiner Heimat zugefügt hat, mit Offenheit und Transparenz zu heilen. Ich möchte auf jeden Fall wieder kandidieren, aber über meinen Einzug in den Landtag werden dann die Wählerinnen und Wähler entscheiden.
Was habe Sie noch auf dem Herzen?
Berghahn: Ich möchte nochmal betonten, dass Behörden in diesem schrecklichen Missbrauchsfall Fehler gemacht haben mit schrecklichen Folgen für Kinder, Jugendliche und Familien. Wenn die Ämter Informationen zusammengefügt und ausgetauscht hätten, wären die Täter viel früher gefasst worden. Eine vertrauensvolle Kommunikation zwischen den Behörden hätte dafür gesorgt, dass die Täter von Lügde, Bergisch-Gladbach und Münster eher hinter Gitter gekommen wären und den vielen Opfern wäre viel Leid erspart geblieben. Wir sehen immer mehr, dass wir es nicht mit Fehlern einzelner Behörden zu tun haben, sondern das hier strukturelle Problem vorliegen.
Fotos: Bernhard Preuss
Ich bin überzeugt, das es einige Nutznießer und Mittäter bei den 2 Jugendämter und Polizeidienststelle gibt, die dafür gesorgt haben, dass den eingegangen Missbrauchs-hinweise und -vorwürfen nicht nachgegangen wurde. Da ist klarer Vorsatz sichtbar. Das hatte eindeutig System. Der verschwundene Koffer mit Daten und manipulieren der Jugendamtpapiere bestätigt das eindeutig.
LikeLike