Mein Handy klingelt, auf dem Display leuchtet eine unbekannte Nummer auf und am anderen Ende der Leitung ist Sabine Schmidt* – ich kenne sie nicht. Sie entschuldigt sich und erzählt, dass ihr Vater vergangene Woche im Alter von 80 Jahren an einem Herzinfarkt verstorben ist. Ich drücke mein Beileid aus und weiß immer noch nicht, wer ihr Vaters ist. „Mein Vater ist Ernst Lanthans* und er hat immer sehr gut über sie gesprochen, da sie ihm beim Umzug und dem Stress mit den Vermieter geholfen“, sagt sie mit gebrochener Stimme. Während ich mich versuche zu erinnern, fügt sie hinzu: „Ich möchte Sie auch Wunsch meines Vaters zu seiner Beerdigung am kommenden Donnerstag einladen. Ich habe es ihm versprochen, dass ich sie kontaktiere“. Ich bin überrascht, gerührt, sage zu. Nach dem Telefonat versuche mich an ihn zu erinnern, suche im meinem Privatarchiv nach dem Notizblock und gebe mir große Mühe meine Schrift zu entziffern. Ganz oben auf der ersten Seite stehen 5. Juni 2020, sein Name sowie Alter, Beruf und Adresse.
Erinnerungen mit Blick in den Notizblock
Ich traf ihn im Juni vergangenen Jahren vor meiner Haustür – ich kannte den damals 79-Jährigen, weil er regelmäßig die Mülltonnen an die Straße stellte und dabei mal mein Auto mit den Tonnen „umzingelt“ hatte, weil es etwas schief auf dem Bürgersteig stand. Er war im Umzugsstress und hatte Ärger mit seinem Vermieter, hatte ich notiert. Sein neues Appartement in einer Seniorenunterkunft bei Lübeck konnte er wegen Coronaumbauten noch nicht beziehen und aus seiner Detmolder Wohnung musste er raus, da sein Vermieter die Räumlichkeiten schon anderweitig vermietet hatte. „Nun droht mir der hiesige Hausbesitzer mit Zwangsräumung, weil ich zum 31. Mai gekündigt hatte“, sagte der 79-Jährige und zupfte an seiner Maske herum – steht auf der zweiten Seite meines kleinen Notizblocks. Jetzt kehren die Erinnerungen auch ohne Blick in meinen Block zu langsam zurück.
Bunte Shorts für den Besuch am Meer
Er lud mich zum Kaffee ein und fragte, ob ich mich „kümmern“ könne – ich schüttele den Kopf und nahm seine Einladung an. Ich erinnere mich, dass der 79-Jährige für einen Moment verloren im Schlafzimmer zwischen den Umzugskartons, Ordnern und Fotoalben saß und mein Herz etwas schwer wurde. Ich notierte – ein alter Mann löst seine Wohnung auf und zieht ein letztes Mal um. Aber es sah schlimmer aus, als er sich fühlte. Er zog die Maske ab, steckte sie in die Hosentasche, lächelte und musste sich immer kurz setzen, weil seine Hüfte schmerzte. Dann griff nach zwei bunten Shorts aus einem Umzugskarton und hielt sie sich freudig an die schmerzenden Hüften. „Die hab‘ ich mir gekauft. Das wird ein schöner Sommer. Ich will an die Ostsee – das Wasser und den Strand genießen.“ Von Detmold zog es ihn in die Nähe von Lübeck, weg aus seiner Heimatstadt, in der er seine 79 Lebensjahre größtenteils verbracht hatte, hin zu seinen Töchtern und Enkeln.
Wohnung gegen Platz in Seniorenunterkunft
Aus einer Zweizimmerwohnung unterm Dach sollte es in ein ebenerdiges Appartement gehen. Ich gebe mir Mühe, um ein Zitat des 79-Jährigen zu entziffern – Zeit seines Berufslebens immer fit und viel gearbeitet, habe ich notiert. Ernst Lanthans sagt: „Nachts um fünf bin ich angefangen, bis nachmittags halb fünf. Ich war fleißig!“ Mit Leib und Seele Elektriker – 47 Jahre blieb er in der Firma und die verhalf ihm zu Wohlstand und einem eigenen Heim. Seine Frau Inge* lernte er mit 21 Jahren kennen, sie sahen sich „wenn´s passte“, eines Tages sagte sie zu ihm: „Wenn Du mir ein süßes Kind machst, heirate ich Dich.“ Er lächelte. Sie bekamen zwei Mädchen. Inge starb mit 69 an Krebs. Das war 2012. Er verkaufte das Haus, das Geld kam aufs Sparkonto und er zog in die Dachgeschosswohnung – 490 Euro Warmmiete für 50 Quadratmeter, davon wurden zwanzig Euro abgezogen fürs Tonnen rausstellen. Für knapp 25 Quadratmeter in der Seniorenunterkunft musste er monatlich einen vierstelligen Betrag zahlen plus Hilfe, wenn er sie braucht – betreutes Wohnen. „Ich war nie krank“, sagte der 79-Jährige, „bis ins Rentenalter.“ Dann kam der Krebs, Operation, „20 Zentimeter Dickdarm weg“, vier Jahre später die Hüfte „neues Gelenk“. Und 2018 die Nieren. Seither musste er zur Dialyse – steht auf Seite vier meines Notizblocks samt umrahmten Zitat des Detmolders: „Manche vertragen das schlecht, ich kann’s gut ab“. Im Herbst 2019 kippte er „öfter mal“ um. „Ich habe mir aber nie etwas gebrochen, hab‘ wohl einen Schutzengel.“ Die Töchter wollten das Glück nicht überstrapazieren, und so kam die Senioreneinrichtung im Norden ins Spiel. „Die Mädels wollten, dass ich zwei Wochen zur Probe wohne, aber ich habe gesagt, ich mach‘ das eine Woche und dann weiß ich es.“ Gleich beim Frühstück lernte er einen Piloten kennen, Luftfracht, bewegtes Leben. „Der freut sich, wenn ich komme.“ Auch das half bei der Entscheidung im Winter 2019. Leid tat es ihm um die Möbel in seiner Wohnung, 1400 Mark kostete der Tisch, 13.000 Mark die Schrankwand und der Sekretär voller Fotos, es muss vieles weg: „Das neue Zimmer ist möbliert und zum Glück kann ich mich leicht trennen.“ Ich lese die Frage, ob er nicht Freunde oder Bekannte vermissen wird? Seine Antwort war: „Ich bin bei meinen Arbeitszeiten immer abends nach der Tagesschau ins Bett gefallen, da gibt es nicht so viele.“
„Ich werde im Saerg nach Lippe zurückkehren“
Er verlasse Lippe mit einem guten Gefühl und werde im Sarg zurückkommen. „Der Platz auf dem Friedhof, neben meiner Frau, ist reserviert und bezahlt.“Außer mit dem Piloten war er schon mit ein paar anderen Bewohnern der 22 Seniorenzimmer ins Gespräch gekommen. „Wir wollen gemeinsam was unternehmen – vielleicht eine Busfahrt an die Ostsee, wenn dieser Virus die Pläne nicht durchkreuzt“, sagte er. Auf Seite sieben meines Blocks kann ich die Frage entziffern, ob er sich gar nicht an die veränderten Lebensumstände gewöhnen muss? „Eigentlich nicht“, sagte er. „Das ist ein neuer Lebensabschnitt, da mach‘ ich nicht viel Gerede drum, da mach‘ ich alles mit.“ Er sei nicht der erste und letzte Mensch, der aus einem selbstbestimmten Leben den Weg in die Obhut eines Heims antrete. „Ich kann nur hoffen, dass die Mitarbeiter dort einem mit Verständnis und Respekt begegnen. Aber ich habe ein gutes Gefühl.“
Keine Angst vor dem Tod
Zwei Verwandte, so in seinem Alter, seien viel schlechter dran, sagte er damals: „Sie haben Demenz und sind pflegebedürftig. Mir tun die echt leid. Ich bin sehr mitfühlend, das mag ich mir gar nicht angucken, da kommen mir die Tränen.“ Angst vor dem Tod hatte er nicht. „Ich bin ein wenig neugierig darauf und freue mich auf meine Frau.“ Aber nun war erst mal Lübeck dran. „Da steht das Holstentor und es soll ja auch ein Theater-Figuren-Museum geben.“
Zum Abschied reichte er mir einen Zettel mit der Rufnummer des Hausbesitzers: „Mit mir redet er nicht mehr. Ich will nicht im Streit meine Heimat verlassen, wenn sie trotzdem helfen wollen, der Vermieter liest ihre Geschichten auch sehr gerne.“ Zuhause griff ich zum Handy und wählte die Nummer. Nach langem Hin und Her – machte der Vermieter ein großzügiges Angebot. Er zog die Räumungsklage zurück und wollte auch nur 100 Euro Miete, wenn Ernst Langhans bis zum 20. Juni auszieht. „Vielen Dank – ich bin einverstanden, wenn bis dahin mein neues Obdach nicht bezugsfertig ist, komme ich paar Tage bei meiner Tochter unter“, sagte Langhans, obwohl er ungern seine Unabhängigkeit aufgebe. Da enden meine Erinnerungen und 15 Seiten Notizen.
Beschränkter Besuch wegen Corona
Zwei Stunden später klingelt wieder mein Handy – es ist Sabine Schmidt. „Sie sollen sich nicht verpflichtet fühlen“, sagt sie. Ich wiederhole meine Zusage. „Er war unglücklich hier in Lübeck, obwohl sein Zimmer relativ schnell bezugsfertig wurde“, sagt Sabine. Ihr Vater war isoliert, wegen des Coronavirus‘ habe es nur eine eingeschränkte Besuchserlaubnis gegeben: „Die Ostsee in seinen neuen Short konnte er leider nicht sehen“, sagt sie schluchzend, denn der Herzinfarkt habe ihm sehr zu schaffen gemacht. Er habe gekämpft, aber nach Monaten mit Operationen haben er den Kampf in der vergangenen Woche verloren. „Er wollte nicht mehr kämpfen, hat sich auf Mama gefreut, um mit ihr Strand und Meer zu besuchen und ist dann friedlich eingeschlafen“, sagt sie am Telefon – ihre Stimme bricht.
*Namen geändert