Der Albtraum, der Roland Kopp seit fast neun Jahren verfolgt, kann endlich ein Ende finden – am 20. April um 10.30 Uhr im Detmolder Gerichtsgebäude. Denn an diesem Tag wird die Zivilkammer des Landgerichts das Urteil im Rechtsstreit zwischen Kopp sowie der Gegenpartei, die sich aus Deutscher Bahn, Westfalenbahn und einem Streckenposten zusammensetzt, verkünden – es geht um 21.500 Euro Schmerzensgeld und Verdienstausfall. Doch für den Ex-Zweitligaprofi von Arminia Bielefeld und Betreiber des Detmolder „Soccerdomes“ geht’s nicht nur ums Geld, sondern auch um sein „Seelenheil“, wie Kopp betont. „Ich hoffe, dass ich an diesem Apriltag den schweren Schleier, der seit Jahren über meinem Alltag liegt, abwerfen kann und meine Panikattacken endlich enden“, erklärt der 56-Jährige, schließt kurz die Augen und fährt mit den Fingern seiner rechten Hand durch sein schulterlanges Haare. Auf die Nachfrage, welchen Alltag er wieder haben möchte? Antwortet er schnell: „Ich will mein altes Leben zurück und sehne mich nach Leichtigkeit und Lebensfreude“, sagt der Spielervermittler bei unserem Treffen in der Fußballhalle.

An den Tag, der aus einem lebensfrohen einen nachdenklichen „Koppi“ machte, kann er sich noch ganz genau erinnern. Es war der Abend des 22. Juni 2012 – auf der Großleinwand im „Soccerdome“ läuft das EM-Viertelfinalspiel Deutschland gegen Griechenland. Die DFB-Elf gewinnt in Danzig klar mit 4:2 und zieht ins Halbfinale des Turniers ein. Gut gelaunt steigt er in seinen braunen Audi A6 – seine beiden Kinder (16 und 17 Jahre) sitzen auf der Rückbank, ein Freund nimmt auf der Beifahrerseite Platz. „Ich wollte den Kumpel in seine Wohnung fahren und dann mit den Kindern nach Hause“, erinnert sich der Familienvater. Er biegt nach links ab. Auf dem Heimweg muss er einen Bahnübergang überqueren – die Schranken sind oben. Er sieht die herannahende Bahn nicht. Aber: „Weil ich ein Licht im Augenwinkel gesehen und die Zughupe gehört habe, bin ich instinktiv in die Eisen.“ Sein Auto rutscht gegen den Zug, es knallt – alle Airbags lösen aus.
Sekunden später öffnet er seine Augen, er ist eingehüllt in die weißen Luftkissen und hört die Stimmen seiner Kinder, die unentwegt fragen: „Papa, alles in Ordnung – Papa, Papa?“ Er antwortet mit einem „Ja, alles gut.“ „Nur gefühlte Sekunden später waren auch schon Rettungswagen und Polizei vor Ort – überall Blaulicht“, erinnert sich Kopp. Als er aussteigt, sieht er das völlig zerstörte Auto, das von einem Zug der Westfalenbahn gerammt worden war. Alle Insassen bleiben nahezu unverletzt, können das Krankenhaus bald verlassen. Es bleiben leichte Verbrennungen vom Airbag, blaue Flecken, Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln und stellen fest, dass an diesem Abend die Lichtzeichenanlage und die automatische Schranke des Bahnübergangs defekt waren. Deshalb wurde dieser von einem Wärter gesichert. Doch der Mann versäumte, trotz telefonischer Ankündigung, das Warnlicht einzuschalten und die Schranke herunterzulassen.

Zahlreiche Medien berichten über den spektakulären Crash, Kopp stellt sich vor die Kameras und spricht vom „zweiten Geburtstag“, doch seine Feierlaune vergeht schnell. „Ich hatte wochenlang Ohrenschmerzen, dann kamen Schlafprobleme und die Panikattacken“, erinnert sich der Ex-Fußballprofi. Diese Attacken kündigen sich nicht an, sie „überfallen“ ihn am Steuer während der Autofahrt, im Flieger oder im Urlaub. „Dann habe ich das Gefühl, dass sich mein Brustkorb verengt, ich keine Luft mehr kriege und mein Herz stehenbleibt“, beschreibt Kopp diesen Zustand mit gesenketem Blick und legt die rechte Hand auf seine linke Brustseite, als wolle er er seine Herzschlag spüren. Er sucht und findet Hilfe – sein Therapeut verschreibt ihm für akute Angstzustände das Arzneimittel „Diazepam“ in flüssiger Form – seit dem trägt er zehn Tropfen des Mittels, dass auch zur Behandlung von Angstzuständen eingesetzt wird, immer bei sich. Er greift in seine Hosentasche und zückt ein kleines Fläschchen, dass an Parfüm-Probefläschen erinnert: „Ich brauche die Tropfen als Sicherheitsnetz, ich nehme sie nicht unbedingt, wenn ich eine Panikattacke habe, aber es reicht zu wissen, dass ich sie dabei habe.“
Vor kurzem habe er das Fläschchen auf dem Rückflug von Dubai nach Deutschland nicht bei sich gehabt – sofort habe er eine Enge in seiner Brust wahrgenommen. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal der Grund dafür bin, dass der Kapitän über die Sprechanlage fragt, ob ein Arzt an Bord ist“, sagt Kopp. Zum Glück saß einer im Flieger, sonst wäre es zu einer Zwischenlandung in Istanbul gekommen, damit der 56-Jährige aussteigen kann. „Der Mediziner hat mich beruhigt und saß bis zur Landung in Deutschland neben mir.“
Ich gebe die Hoffnung nicht auf.
Roland Kopp, Spielervermittler
Neben den psychischen und körperlichen Auswirkungen des Unfalls, von denen die übrigen drei Autoinsassen bisher verschont geblieben sind, läuft seit knapp neun Jahren auch eine juristische Auseinandersetzung vor dem Detmolder Landgericht – Roland Kopp möchte von der Deutschen Bahn als Gleisbesitzer, der Westfalenbahn als Zugbetreiber sowie dem Schrankenwärter Schmerzensgeld und Verdienstausfall. „Das ist kein Millionenbetrag – die Summe beläuft sich auf 21.500 Euro und einen Teil möchte ich auf jeden Fall spenden“, sagt Kopp. Immer wieder habe die Gegenseite Termine verschoben – ein Treffen vor der Zivilkammer sei insgesamt 18. Mal verlegt worden. „Die Gegenseite hat Vergleiche des Gerichts abgelehnt und die Verzögerungstaktik hat mir sehr zugesetzt“, sagt Kopp. Das beklagte Trio schaltet einen psychiatrischen Gutachter ein, der feststellen soll, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Unfall und Kopps Panikattacken gibt. „Dieses Vorgehen empfinde ich als unmenschlich. Ich erfinde doch nicht solche Gefühle oder Zustände. Ich würde alles drum geben, wenn ich diese Panikattacken samt körplicher Auswirkungen nicht mehr hätte. Zudem bin ich gar nicht auf das Geld angewiesen“, sagt der Familienvater. Während des vergangenen Gerichtstermins am 23. März habe der Sachverständige dann sein Gutachten vorgetragen – und seine Schlussfolgerungen seien eindeutig gewesen. „Er hat gesagt, wenn es diesen Unfall am 22. Juni 2012 nicht gegeben hätte, hätte Roland Kopp jetzt auch keine Panikattacken“, sagt Rechtsanwalt Ralf Eggersmann, der seit 2018 an der Seite des Ex-Profifußballers steht. Der Jurist hofft, dass die Gegenseite, die ja aus drei Parteien bestehe, sich einige und endlich eine Lösung gefunden werde. „Aber ich gehe davon aus, dass wir vor dem Oberlandesgericht (OLG) in Hamm landen und damit das Verfahren noch einige Zeit dauert“, sagt Eggersmann.

Dafür gebe es eindeutige Hinweise, denn auch das Verfahren des Autohauses, das damals den A6 Roland Kopp zur Verfügung gestellt hatte, habe den Schadensersatz in Höhe von 28.000 Euro erst nach einer Entscheidung des OLG erhalten. „Dieses Rechtsmittel steht den beklagten Parteien auch in diesem Fall zu“, so Dr. Wolfram Wormuth, Sprecher des Detmolder Landgericht. Auf Anfrage hüllen sich die Rechtsanwaltskanzleien, die die Deutsche Bahn sowie die Westfalenbahn vertreten, mit Verweis auf das laufende Verfahren in Schweigen. „Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass mir der Gang vors Oberlandesgericht und damit weitere quälende Monate oder Jahre erspart bleiben“, sagt Kopp am Ende unseres Gesprächs. Er greift nochmals in die Hosentasche, um zu kontrollieren, ob er das Fläschchen eingesteckt hat. Er hat. Beruhigt schließt er die Tür des „Soccerdomes“ ab. „Wir haben seit Mai 2020 geschlossen, aber das ist eine ganz andere Geschichte“, ruft er, steigt in sein Auto, fährt los. An der Kreuzung biegt er nach links ab – und überquert nur Sekunden später den Bahnübergang, an dem vor fast neun Jahre sein zweites, schwermütiges Leben begann.
Fotos: Bernhard Preuss