Immer wieder muss die kleine Anna mit ihrem Vater auf den Dachboden, dort hat er einen schwarzen Mantel ausgebreitet, auf dem er das Mädchen zum Sex zwingt. „Es fing an, als ich sechs Jahre war und nachdem er seine sexuellen Vorlieben an mir ausgelebt hatte, drohte er, dass er Mama umbringt, wenn ich was erzähle“, erinnert sich die heute 70-jährige Lemgoerin. Die Übergriffe liegen mehr als 60 Jahre zurück, doch wenn Anna H., die ihren echten Namen nicht nennen möchte, in den Medien über die Missbrauchsfälle in Lügde, Bergisch-Gladbach und Münster liest, packt sie eine Mischung aus Wut und Traurigkeit. Wut, weil die missbrauchten Kinder von den Behörden nicht vor diesen „Monstern“ geschützt worden seien. Traurigkeit, weil sie immer wieder durch die schrecklichen Schicksale der Kinder an ihr eigenes Martyrium erinnert werde, sagt die Rentnerin.
Im Jahr 1951 kommt Anna in Holland zur Welt, ihr holländischer Vater und ihre deutsche Mutter, haben sie nach dem zweiten Weltkrieg dort niedergelassen. „Den Unmut und Hass der Holländer so kurz nach dem Krieg habe ich schon in Kinderjahren zu spüren bekommen. Ich wurde immer wieder als blöde Deutsche beschimpft, für unerwünscht erklärt und ausgeschlossen“, erinnert sich Anna. Doch dies sind nicht die einzigen schmerzlichen Erinnerungen an ihre Kindheit im Nachbarland. „Für die Hölle auf Erden sorgte mein eigener Vater, der mich jahrelang regelmäßig missbrauchte“, schluchzt Anna H. am Telefon. Ihre Stimme bricht. Sie bittet um eine kurze Pause.
„Wenn er die Haustür hinter sich zugemacht hat, ist er zum Monster mutiert.“
Anna H., Missbrauchsopfer
Bis heute könne sie sich an die Geräusche und Gerüche auf dem Dachboden erinnern – an diesen schwarzen Mantel mit den Riesenknöpfen, an die Kurzatmigkeit und den Schweißgeruch. Sie habe sich immer weiter zurückgezogen, „weil ich dachte, dass die anderen mir den Missbrauch ansehen“. Auch in der Schule sei sie abgesackt, habe abgenommen, sei immer stiller geworden und die Kinder, die nicht aufhörten sie zu beleidigen, verprügelt. „So konnte ich meinen Frust und Hass etwas lindern. Ich brauchte einfach ein Ventil.“ Sie habe ihre Verzweiflung und Angst nicht nur durch Schlägereien kompensiert, sondern auch angefangen zu malen. „Ich habe versucht, den Schmerz auf die Leinwand zu bringen. Die Malerei hat mir damals und auch später sehr, sehr geholfen“, sagt die Seniorin.
hre Mutter habe die Augen vor den Übergriffen des Vaters verschlossen. Irgendwann im Alter von neun Jahren habe sie allen Mut zusammengenommen und der Mutter alles erzählt. „Doch statt mich in den Arm zu nehmen, wollte sie gar nichts hören. Hat sie mich beschimpft und aufs Zimmer geschickt“, sagt Anna. Sie habe es gewusst und toleriert, weil es ihr egal gewesen sei. „Ich hätte mir gewünscht, dass meine Mutter mich und meine Geschwister nimmt und nach Deutschland umzieht, fügt sie hinzu. Doch statt befreiender Fluch sei der Missbrauch durch den Vater weitergegangen – sie habe ihn gehasst, weil er sie vergewaltigt, geschlagen und gedemütigt habe, wenn ihm danach gewesen sei. „Er war ein großer Manipulator. Nach außen der sorgende Vater und Ehemann, aber wenn er die Haustür hinter sich zugemacht habe, ist er zum Monster mutiert“, erinnert sich Anna. An Polizei oder Anzeige haben sie Ende der 50er Jahre gar nicht gedacht. Im Alter von zehn Jahren habe sie sich gegen die Übergriffe des Vaters gewehrt und irgendwann hätten die Dachboden-Gänge aufgehört. „Doch Jahre später habe ich erfahren, dass er mich einfach ausgetauscht hat und sich an meinen übrigen vier Geschwistern vergangen hat“, sagt Anna H..
„Ich wollte als Tierschützerin nach Kenia.“
Anna H., Seniorin aus Lemgo
Mit 13 Jahren beginnt für Anna der erste Schritt in die Freiheit. Auf Wunsch des Vaters muss sie Schule verlassen und wird in einem Kloster untergebracht. „Doch ich wollte dort gar nicht leben“, sagt Anna. Und nur ein Jahr später flieht sie nach Deutschland und landet in einer Jugendherberge in Duisburg – wohnt und arbeitet dort. „Mein Traum war als es Tierschützerin in Kenia zu arbeiten, doch dafür war ich zu dem Zeitpunkt zu jung“, sagt die Lemgoerin. Im Alter von 18 Jahren lernt sie ihren heutigen Mann, einen Lipper, in Bad Driburg kennen. Ein Jahr später wird geheiratet und sie wird heimisch in Lippe. „Vor unserer Hochzeit habe ich meinen Mann von den sexuellen Übergriffen meines Vaters erzählt. Er war der erste Außenstehende mit dem ich darüber gesprochen habe und es war eine kleine Befreiung“, erinnert sich die 70-Jährige, die selber drei erwachsene Kind hat und bereits mehrfache Oma ist.
„Ich kann nur alle empfehlen, die den Missbrauch überlebt haben, eine Therapie zu machen.“
Anna H., Missbrauchsopfer
Doch die Albträume und quälenden Erinnerungen wollen einfach nicht verschwinden. „Irgendwann konnte ich einfach nicht mehr und bin in einer Arztpraxis einfach zusammengebrochen“, sagt die Lemgoerin. Es folgen mehrere Therapiesitzungen, in denen sie über ihre traumatischen Erlebnisse im Elternhaus und auf dem Dachboden gesprochen habe. „Mir hat es sehr geholfen und irgendwann waren auch die Albträume weg. Ich kann nur allen, die den Missbrauch überlebt haben, eine solche Hilfe empfehlen“, sagt die Seniorin. Ihre Eltern seien schon vor langer Zeit verstorben, sie habe ihren Frieden mit ihnen gemacht, aber vergessen könne sie nichts und betrete keine Dachböden mehr. „Unter einem Missbrauch leiden wir Opfer ein Leben lang. Wenn sie immer wieder über Missbrauchsfälle lese und höre, würden die schlimmsten Erinnerungen wach“, sagt Anna H.. Daher könne sie auch aktuelle Protestaktionen von Eltern, die die Corona-Testmaßnahmen für Kinder mit einem Missbrauch gleichsetzten, nicht nachvollziehen. „Das ist eine absolute Frechheit. Es macht mich wütend und traurig, weil es eine absolute Verhöhnung der Opfer ist“, sagt die Lemgoerin. Die Eltern, nach Angaben der Polizei 30 Erwachsene und ebenso viele Kinder, die vor dem Kreishaus protestiert hätten, sollten sich schämen. Anscheinend grassiere neben dem Corona-Virus ein neues Virus, dass viel ansteckender sei und Hirn sowie Mitgefühl angreife.