Ein Fußballspiel und zwei Gewinner

Eigentlich wollte ich bei meinem Kumpel Marco das Spiel meines Herzensvereins VfB Stuttgart gegen Leipzig schauen, doch bereits vor dem Anpfiff – bei Kaffee und Bienenstich – fragt er mich, ob ich mit dem Auto gekommen sei? Ich bejahe und habe gleich ein schlechtes Gewissen, dass ich die sieben Kilometer mit dem Pkw gefahren bin. „Hättest lieber nicht das Auto genommen, denn nach 22 Uhr darfst Du nicht mehr fahren, sondern nur noch joggen oder radeln“, sagt er und zeigt mir den Vogel. Über diesen Schwachsinn sollten Du und deine Kollegen berichten, schiebt er hinter. „Bitte, nicht auch noch Du. Wir schauen jetzt Fußball und genießen den leckeren Kuchen“, sage ich und lege die Kuchengabel mit aufgespießtem Stück Bienenstick an den Tellerrand.
Anpfiff – ich bin gespannt. Er ist Bayern-Fan ihn interessiert das Spiel nur am Rande, wenn Stuttgart gewinnt, kann er die Meisterschaft feiern. Leipzig ist überlegen, aber der VfB lässt keine Chancen zu – ein verdientes 0:0 nach fünf Minuten. Er fragt mich, was ich denn von der Schauspielerkampagne #allesdichtmachen halte? Ich rolle die Augen und sage, dass ich den vergangenen Tagen viele Gespräche mit Verwandten, Freunden und Bekannten dazu geführt habe und eigentlich einen entspannten Fußballnachmittag bei ihm verbringen wollte. Er sagt, dass er sonst niemanden aus den Medien kenne und meine Meinung würde ich schon interessieren, wenn er sehe, dass ein renommierter Schauspieler wie Jan Josef Liefers, den er sehr gut finde, die Medien kritisierte. „Ich finde auch, dass die Medien sehr regierungsfreundlich berichten“, sagt er. Das Spiel läuft weiter, der VfB kassiert nach 14. Minuten eine rote Karte – ich bin genervt, wegen des Platzverweises oder Marcos Aussage, weiß ich noch nicht. Ich nehme einen Schluck Kaffee und frage ihn, was er denn an der Kampagne so toll findet? Er sagt, er habe sich nicht nur das Liefers-Video angeschaut, sondern auch dessen Eintrag auf Instagram gelesen, er zückt sein Handy und hält es mir vor.
Auf ein paar Zeilen stellt der bekannte Schauspieler fünf Fragen – „lies mal bitte vor“, fordert er. Ich folge der Bitte.
Erste Frage: „Habt Ihr Euch rundherum gut informiert gefühlt?“
Marco antwortet: „Nein.“
Liefers‘ zweite Frage: „Konntet Ihr Euch aus den Nachrichten eine eigene Meinung bilden?“
Marco sagt: „Geht so. Ich hätte mir mehr kritische Stimmen zur Coronapolitik gewünscht.“
Frage drei des Schauspielers: „Oder habt ihr Euch auch manipuliert gefühlt?
Marco antwortet: „Ja.“
Liefers‘ vierte Frage: „Nur halb informiert?“
Marcos Antwort: „Auf jeden Fall.“
Und die Schlussfrage des 56-jährigen Schauspielers lautet: „Habt Ihr es auch so erlebt, als wären die meisten Journalisten plötzlich einem Chor beigetreten?
Marcos Antwort: „Auf jeden Fall.“
Ich schüttel den Kopf und erwidere, dass sich viele Medien sehr wohl kritisch und differenziert mit dem Thema auseinandergesetzt hätten. Offenbar habe Jan Josef Liefers nicht mitbekommen, dass die Corona-Maßnahmen bereits seit einem Jahr auf allen Ebenen von Politik und Gesellschaft sehr kontrovers diskutiert würden – auch ohne sein Zutun, füge ich hinzu.

„Nicht jeder, der die Regierung kritisiert, ist gleich ein Verschwörungstheoretiker oder ein empathieloser Egoist.“

Marco, Informatiker

Mein Entsetzen über Marcos Antworten packe ich in die Nachfrage, wie viele und welche Medien er konsumiert? „Ich blättere ab und zu bei meinen Eltern in der LZ, schaue Nachrichten, lese einiges im Netz – und alles klingt ähnlich“, antwortet er. Und wenn einer mal die Medien kritisiere, würde er sofort als rechter Coronaleugner tituliert und es würden sogar Beschäftigungsverbote gefordert worden, schiebt er hinterher. „Es besteht doch Meinungsfreiheit in Deutschland, oder nicht?“, fragt er und schaut mich erwartungsvoll an. „Klar“, sage ich. Er nickt. Ich atme tief durch und erwidere: „Ich finde trotzdem, dass einige der Videoclips, die ja ironisch oder satirisch sein sollen, daneben sind und ein Schlag ins Gesicht all jener sind, die auf Intensivstationen um Menschenleben kämpfen oder Angehörigen, die um ihren Liebsten trauern und jenen, die sich an die Regeln halten. Auch der Applaus aus dem rechten Lager sollte die Künstler aufrütteln.“ Halbzeitpfiff – der VfB hält das 0:0 – trotz Unterzahl. Super!
Er nickt und wirft ein: „Aber nicht jeder, der die Notbremse oder andere Maßnahmen der Regierung kritisiert, ist gleich ein Verschwörungstheoretiker oder ein empathieloser Egoist.“ Ich stimme ihm zu und greife nach der Gabel samt baumelndem Stück Bienenstich.
Auch in der Halbzeitpause will die Diskussion nicht abebben, obwohl ich auf einen entspannten Nachmittag samt VfB-Sieg gehofft hatte. Marco ist Informatiker, derzeit im Homeoffice, und betont, dass ihm ein Jahr Pandemie, mit all den Einschränkungen und teils absurden Entscheidungen in der Politik schon sehr zu schaffen mache: „Ich verstehe nicht warum Kultureinrichtungen, Restaurants oder Kneipen schließen müssen, die Bau- und Gartenmärkte oder Frisöre aber geöffnet sind. Auch der Sinn von Ausgangssperren erschließt sich mir nicht, deshalb finde ich die Aktion der Schauspieler berechtigt, die auf ihre Weise die Coronamaßnahmen hinterfragen dürfen, ohne dafür beschimpft oder bedroht zu werden“, sagt er. Ich erwidere, dass ich die Aktion nicht gut finde, aber natürlich dürften die Künstler nicht bedroht oder beleidigt werden.
Anpfiff zur zweiten Halbzeit – nur Sekunden später kassiert der VfB ein Gegentor. Ein Leipziger köpft den Ball wuchtig ins Tor – ich bin sauer. Er nimmt Rücksicht, ist auch genervt, denn mit einem Sieg der Ostdeutschen verschiebt sich auch die Meisterschaftsfeier seiner Bayern. Für ein paar Minuten ist die Coronadiskussion beendet, wir reden über die Fehler der Abwehr und schauen uns konzentriert die zahlreichen Zeitlupen an – es fallen Worte wie: „Gurkentruppe, Amateure und Brausenverein.“

„Einige der Promi-Videos habe ich auch nicht verstanden.“

Marco aus Detmold


Der öde Kick geht weiter, wir schweigen, lassen uns Kaffee und Kuchen schmecken. Doch er hat anscheinend noch Corona-Redebedarf: „Einige der Promi-Videos habe ich auch nicht verstanden, aber die Diskussion um die Clips zeigt doch, dass mehr als Jahr nach Corona die Wertschätzung und der Respekt für andere Ansichten gelitten haben“, sagt Marco. Teilweise erinnere ihn die Wortwahl in den sozialen Medien an die Demonstrationen gegen die Corona-Politik der Bundesregierung in Frankfurt am Main, in die er bei einer Geschäftsreise zufällig hineingeraten sei, wo sich Befürworter und Gegner unversöhnlich, auch in der Wortwahl, gegenüber gestanden hätten. Ich werfe ein, dass es bei einigen Demonstrationen nicht bei verbaler Gewalt geblieben sei, sondern auch Journalisten beschimpft, bedroht und geschlagen worden seien. „Ich glaube, dass durch diese Suggestivfragen von Herrn Liefers, dieser Hass auf Journalisten befeuert wird“, füge ich hinzu. Er schweigt.
Leipzig erzielt den zweiten Treffer durch einen Foulelfmeter. Meine Fußballstimmung ist im Keller – ich befürchte eine Packung für den VfB. „Ich freue mich, dass wir über dieses Coronathema reden können, ohne dass sich jeder in seine Ecke zurückzieh, nur noch seine Meinung verteidigt und dicht macht“, sagt Marco.

Die EM im Juni soll mit Zuschauern stattfinden – Marco glaubt, dass dies nur finanzielle Gründe hat. Die Pandemievorschriften stünden hinter wirtschaftlichen Interessen.

Der elende VfB-Kick endet mit zweiminütiger Nachspielzeit. Wir trinken noch einen Kaffee, diskutieren über ein Zeitungsabo für Marco, das er sich im Alter von 45 Jahren leisten sollte, und die kommende EM, die nach seiner Meinung „nur wegen des Geldes mit Zuschauern stattfinden soll, wo bleibt denn da die Empathie?“, fragt er. 1:0 für ihn, ich stimme ihm zu.
Für mich war es ein komischer Sonntagmittag – mein Verein hat zwar verloren, aber Marco und ich haben gewonnen.

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