Leben mit Down-Syndrom: Svenja ist ein Lichtblick im Tunnel der Pandemie

Svenja greift nach meinem Jackenärmel, drückt ihr Ohr gegen meinen Bauch, als wolle sie mich abhören, nimmt mich an die Hand und zieht mich ins Wohnzimmer ihres Elternhauses. Ihre Mutter Nicole lächelt angesichts der herzlichen Begrüßung und begleitet uns zum großen Tisch voller Übungsblätter, auf denen großen Buchstaben und Zahlen zu sehen sind, daneben die bunten Stiften, mit denen die Zettel vollgekritzelt wurden. „Das ist unser kreativer Homeschooling-Arbeitsplatz“, sagt Nicole Middeke und streichelt ihrer zehnjährigen Tochter über den Kopf. Svenja antwortet nicht, greift nach einem roten Stift, dabei purzeln Zettel und die übrigen Buntstifte zu Boden – es kümmert sie nicht, rennt weg, wirft sich aufs Sofa und spielt mit ihren Füßen. Svenja hat das Down-Syndrom.

Die zehnjährige Svenja Middeke mag gerne Gesellschaftsspiele.

Sie hat zu viele Chromosomen. So heißen die Bestandteile im Zellkern, die Erbinformationen speichern. Bei Menschen mit Downsyndrom ist das Chromosom 21 nicht zweimal, sondern dreimal vorhanden. Das Downsyndrom wird deshalb auch Trisomie 21 genannt. Eines von 800 Kindern wird zufällig so geboren. Das dritte Chromosom 21 verursacht Behinderungen. Svenja kann zum Beispiel nicht so viele Informationen gleichzeitig verarbeiten, lernt langsamer, trägt einen Herzschrittmacher und spricht sehr wenig.
Svenja muss die Schuleingangsphase verlängern und besucht derzeit samt Schulbegleitung die vierte Klasse einer Grundschule, an der alle Kinder gemeinsam lernen – egal ob mit oder ohne Behinderung. „Der Besuch einer Regeleinrichtung ist eine große Chance für Kinder mit einer Behinderung. Sie lernen am besten von anderen Kindern und entwickeln sich gut weiter“, ist Nicole Middeke überzeugt. Doch viele Lehrer seien überfordert und sie habe den Eindruck, dass es den Pädagogen schwerfalle das Maß an Förderung und Forderung zu finden, fügt sie hinzu. Inklusion sei eine tolle Idee, aber die Umsetzung eine große Herausforderung für alle Beteiligten. Dies werde jetzt auch in der Pandemie samt Homeschooling-Aufgaben deutlich. „Svenja erhält immer wieder ähnliche Übungszettel, die offensichtlich ohne Struktur zusammengestellt werden. Es fühlt sich an, als ob Svenja Schülerin zweiter Klasse ist“, sagt die ehemalige Krankenschwester. Zum neuen Schuljahr wechselt Svenja an Astrid-Lindgren-Schule – eine Förderschule.

Nicole Middeke hat immer ein Auge auf Svenja.

Doch die Pandemie habe nicht nur die Probleme der Inklusion offenbart, sondern auch den Alltag von Svenja verändert. „Wenn die Schulen, irgendwann wieder öffnen, muss ich mit ihr zum Testzentrum oder in Schule, um mit ihr die Corona-Selbsttests zu machen, da sie es eigenständig nicht schafft. Auch im Schultaxi darf Svenja nicht mehr mitfahren, weil sie ihre Maske immer wieder absetzt“, sagt die 47-Jährige, die als pflegende Mutter bereits vollständig geimpft ist. Sie habe mit Engelszungen auf den Fahrer eingeredet, auf die Behinderung hingewiesen, doch er weigere sich und verweise auf die Vorschriften, fügt die Lemgoerin hinzu. Helfen könne ein Masken-Befreiungstattest des Kinderarztes, doch dieser stelle sich quer, weil er die Ignoranz des Beförderungsunternehmens kritisiere. „Also fahre ich sie jetzt. Für Svenja bedeute dies, dass sie eine Viertelstunde länger schlafen kann“, sagt die Lemgoerin, während Svenja sich von hinten anschleicht und ihre Mama umarmt. ,,Das Leben mit einem Kind mit einem zusätzlichen Chromosom ist nicht immer einfach, aber es ist genauso bunt und genauso schön wie mit jedem anderen Kind auch“, sagt Nicole Middeke, die auch Mutter eines 14-jährigen Sohnes ist, der keine Behinderungen hat.

Im Sommer 2010 erblickte Svenja das Licht der Welt. „Wir hatten eigentlich mit einem zweiten Sohn gerechnet, weil in allen Ultraschalluntersuchungen ein Junge vorhergesagt wurde, und als die Schwester uns zum Püppchen gratulierte, waren wir schon sehr überrascht, weil wir überhaupt keine Mädchensachen hatten“, erinnert sich Nicole Middeke. Später sei der Oberarzt zu ihr gekommen und habe ganz vorsichtig den Verdacht Down-Syndrom angesprochen. „Ich wollte es gar nicht glauben, doch als meine Kollegin dies bestätigte, habe ich nur noch geweint“, erinnert sich die Ex-Krankenschwester. Doch das Klinikpersonal habe sie mit viel Infomaterial versorgt und auch den Kontakt zu anderen Eltern, die ebenfalls Kinder mit Down-Syndrom haben, hergestellt. „Ich erinnere mich noch an die Aussage eines Arztes, der das Down-Syndrom als Mercedes unter den Behinderungen bezeichnete“, lacht sie.

Das Radfahren macht Svenja großen Spaß.

Heute ist Svenja zehn Jahre alt. Der damals unter ihren Füßen weggezogene Boden ist längst wieder da, fester als je zuvor. Svenja puzzele gern, liebe Radfahren, reite gerne, sie tobe und gehe anderen auf die Nerven. Sie herze ihre Mitmenschen, ihre Mama, ihren Papa und den vier Jahre älteren Bruder. Ganz besonders liebe sie Pizza und Grünkohl mit Wurst. Wenn sie am Tisch sitze, fordere sie lautstark: „Lecker!“ Ihr 14-jähriger Bruder Jan habe ähnliche Vorlieben. Svenja habe dazu ein drittes Chromosom 21. Deswegen sage sie mit zehn noch „lecker“ statt „Pizza“, deswegen trage sie manchmal noch eine Windel, deswegen renne sie langsamer als Gleichaltrige. Aber trotzdem: Sie leide nicht am Down-Syndrom. Denn Svenja sei nicht krank. Sie sei behindert, mit der Behinderung, mit der statistisch seit Anbeginn der Menschheit jedes 800. Kind geboren werde.
„Das wussten wir im Detail alles nicht, als wir uns entschieden, Kinder haben zu wollen. Wir wussten aber immer, dass wir Kinder so haben wollen, wie sie auf die Welt kommen“, sagt die zweifache Mutter. Warum also mit Diagnosen stressen, an denen man eh nichts ändern können? Die Vorstellung, dass Svenja hätte weggemacht werden können, treibt ihr während des Gespräches die Tränen in die Augen. Die Vorstellung, dass so viele andere Kinder mit ihrer Behinderung es aus Angst vor Stigmatisierung, vor den Herausforderungen des Unnormalen, gar nicht auf die Welt schaffen, mache sie wütend – bei allem Verständnis für die Entscheidungsfreiheit jedes Einzelnen.
Einmal seien ihr die Blicke eines älteren Herrn an der Supermarktkasse aufgefallen. Er habe zu Svenja geschaut und gesagt: „Dich hätte man früher vergast.“ Der Satz habe sie erschaudern lassen und auch die Bemerkung einer Lehrerin, dass Svenja nicht weiter sei, als eine Einjährige habe sie sehr verletzt. In solchen Situationen habe sie das Gefühl, als müsste sie sich rechtfertigen ein Kind mit Behinderung zu haben. „Doch diesen Verletzungen stehen unzählige positive Erlebnisse gegenüber“, betont Nicole Middeke.

Svenja liest Menschen und weiß, wessen Herz groß ist“

Nicole Middeke, Mutter von Svenja

Svenja nicht um sich zu haben, sei unvorstellbar. „Ihren Mut, ihre Vorsicht, ihre Sensibilität, ihre Liebe, ihre Intelligenz. Ja, ihre Intelligenz“, betont die Ex-Krankenschwester. Die sei nicht so wie unsere. „Ihre ist anders – und damit bereichert sie uns, die Familie, Freunde und Fremde“, sagt die 47-Jährige. Svenja könne Menschen verzaubern, fege Berührungsängste mit einem Lächeln und einer Umarmung beiseite. Die Zehnjährige bringe Menschen zum Reden, verschaffe ihnen Erleichterung, weil ihre vermeintlich unperfekte Gegenwart Menschen dazu animiere, uns Geschichten persönlichen Scheiterns und eigener Unvollkommenheit zu erzählen. „Svenja liest Menschen und weiß, wessen Herz groß ist. Eine Herzensleserin. Sie ist zu einem Gradmesser bei der Beurteilung von Personen geworden“, sagt Nicole Middeke. Und sie sei eine Kämpferin: „Die kleine Maus hat im Alter von vier Monaten eine schwere Herzoperation samt anschließender Intensivstation überstanden.“ Das Loch in ihrem Herz wurde „geflickt“ – heute trägt sie einen Herzschrittmacher. „Man sagt das so leicht: Aber ja, wir sind eine glückliche Familie. Und daran hat Svenja ihren Anteil. Weil sie ein Geschenk ist. Wie alle Kinder“, betont Nicole Middeke.
Fotos: Bernhard Preuss

2 Kommentare zu „Leben mit Down-Syndrom: Svenja ist ein Lichtblick im Tunnel der Pandemie

  1. Hallo Frau Ollermann-Wilde,

    anbei eine aktuelle Story des Journalisten Kamisli….

    LG Hermann Hibbeler

    PS:

    Können Sie mir bitte den Ausschreibungstext der Stelle kaufmännischer Geschäftsführer schicken? Danke….

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