Im Fall des hundertfachen sexuellen Missbrauchs auf einem Campingplatz bei Lügde sollen weit mehr betroffene Kinder vom Jugendamt des Kreises Höxter betreut worden sein, als bisher bekannt ist. Von mindestens 13 Kindern, berichtet das TV-Magazin „Westpol“. Dies sei nun durch den parlamentarischen Untersuchungsausschuss im Düsseldorf öffentlich geworden – bislang waren drei Fälle bekannt. In einem Schreiben habe der Landrat des Kreises Höxter, Michael Stickeln von der CDU, die Übersendung der Akten von 13 Missbrauchskindern zugesagt. Das Wirrwarr im Missbrauchsfall Lügde ist wieder einmal groß.
Ob dies so einfach ist, steht derzeit in den Sternen, denn die Staatsanwaltschaft Paderborn ermittelt seit Wochen gegen eine Mitarbeiterin des Jugendamts Höxter. Es soll geklärt werden, ob Akten in unzulässiger Weise verändert wurden. Die Behörde prüft derzeit, ob Anhaltspunkte bestehen, die auf eine strafbare Handlung hindeuten. Grund für die Ermittlungen waren entsprechende Aussagen der Mitarbeiterin zu den Vorgängen im Jugendamt Höxter vor dem Lügde-Untersuchungsausschuss gewesen. Danach stand der Verdacht im Raum, dass im Jugendamt nachträglich Unterlagen verändert wurden. „Wir ermitteln weiter und hoffen, dass die Arbeit bis Ende des Monats abgeschlossen wird“, sagt Oberstaatsanwalt Ralf Meyer, Sprecher der Paderborner Staatsanwaltschaft, auf Nachfrage. Eigentlich hatte die Behörde ein Ermittlungsergebnis für Ende April angekündigt. Zur Verlängerung der Ermittlungen wolle er nichts sagen und auch die Zahl von 13 Missbrauchsopfern wolle er weder bestätigen noch dementieren, so Meyer.

Dagegen wollte sein Kollege Oberstaatsanwalt Ralf Vetter von der Detmolder Staatsanwaltschaft, der die Ermittlungen im Missbrauchsfall Lügde leitet, die Zahl 13 von Opfern aus dem Kreis Höxter nicht ausschließen, da der Campingplatz in Lügde auch über die lippischen Grenzen hinweg sehr beliebt gewesen sei. Viele Familien aus den angrenzenden Kreisgebieten haben dort Wochenenden verbracht und dabei sind Kinder von den Dauercampern Andreas V. und Mario S. missbraucht worden. „Aber nicht alle Fälle haben Eingang in die Anklage gefunden, weil einige Vorwürfe bereits verjährt waren oder die Aussagen sehr stark variierten“, erinnert sich Oberstaatsanwalt Vetter. Teilweise hätten sich Eltern und auch Opfer erst nach den veröffentlichten Ermittlungen mit Missbrauchsvorwürfen gemeldet und auch Anzeige erstattet. „Bevor der Missbrauchs-Komplex Lügde Ende 2018 öffentlich wurde, hatte sich niemand gemeldet, obwohl die sexuellen Übergriffe ja bereits Jahre zuvor stattgefunden hatten“, bedauert Vetter. Erst als die Ermittler alle Camper überprüften, hätten Missbrauchsopfer ihr jahrelanges Schweigen gebrochen. Auf dem Campingplatz hätten nicht nur Einheimische, sondern auch ausländische Gäste ihre Ferien verbracht – vor allem aus den Niederlanden. „Natürlich wurden auch die Touristen befragt, aber es wurden kein Missbrauch gemeldet“, sagt Vetter.
Behörden haben den Missbrauchsfall-Lügde immer noch im Visier
Über zwei Jahrzehnte hinweg hatten die Männer auf einem Campingplatz Kinder schwer sexuell missbraucht – obwohl es immer wieder Hinweise gab, wurden die beiden nicht gestoppt. Das Duo fotografierte und filmte zudem seine Taten: Bei beiden stellte die Polizei Bild- und Videodateien mit kinderpornografischen Inhalten sicher. Das Detmolder Landgericht verurteilte die beiden Männer wegen hundertfachen sexuellen Missbrauchs zu jeweils 13 und zwölf Jahren Haft plus anschließender Sicherungsverwahrung. Die beiden seien in der Haft nicht auffällig und auch der dritte Verurteilte, Heiko V. aus den niedersächsischen Stade, der zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt worden war, sei bisher nicht wieder auffällig geworden. Das Gericht sprach Heiko V. wegen Anstiftung und Beihilfe zum sexuellen und schweren Missbrauch von Kindern schuldig. In den Jahren 2010 und 2011 nahm er nach Überzeugung des Gerichts an Webcam-Übertragungen teil, bei denen ein Mädchen auf dem Campingplatz sexuell missbraucht wurde. Dabei gab er demnach auch Anweisungen und befriedigte sich vor den Augen des Kindes selbst. Verurteilt wurde der Stader auch wegen des Besitzes von kinderpornografischen Fotos und Videos. Die Ermittler hatten bei ihm rund 31.000 Fotos und 11.000 Videos gefunden.
Der Missbrauchsfall von Lügde gilt als bisher schwerster Fall von sexueller Gewalt gegen Kinder in der Geschichte Nordrhein-Westfalens. Mehrere hundert Einzeltaten an 34 Mädchen und Jungen waren angeklagt, letztlich wurden die Taten an 32 Opfern verurteilt. Die Zahl der geschädigten Kinder sei vermutlich viel, viel höher, sagte Richterin Anke Grudda in der Urteilsbegründung. Auch wenn der Fall abgeschlossen scheint, in den Ermittlungsbehörden wird mit Argusaugen immer noch alles beobachtet, wenn es minimale Hinweise zu den Missbrauchstaten in Lügde gibt.
Der Untersuchungsausschuss in Düsseldorf versucht seit Sommer 2019 aufzuklären, wie es zu dem jahrelangen Missbrauch kommen konnte, ohne dass Behörden auf die kriminellen Vorgänge aufmerksam wurden.
Fotos: Bernhard Preuss