Der Saubermann vom Dienst

In den Ritzen zwischen den Pflastersteinen, in Blumenkästen und vor Mülleimern liegen die Zigarettenstummel herum, manche qualmen noch im Wind vor sich hin. Axel Kleibotenko sammelt sie auf. Mit der Greifzange pflückt er die Kippen vom Boden, lässt sie einzeln in seinen Handschuh fallen. Dann geht er zurück zum Handwagen und wirft sie in den Müllsack. Der 57-Jährige ist Stadtpfleger, sein Revier die Detmolder Innenstadt – mehr als 70 Mülleimer liegen auf seiner sechsstündigen City-Tour. Bekleidet mit orangefarbener Hose, Jacke, Baseballkappe und blauen Arbeitshandschuhen lenkt er seinen Schiebewagen, der mit Kehrblech, Handfeger, Mülleimer, Greifzange und unzähligen Müllsäcken bestückt ist, durch die Straßen, Plätze und Parks der Stadt.

Tourstart: Mit seinem Schiebenwagen startet Axel Kleibutenko zur Reinigung der Detmolder Innenstadt.

Es nieselt und auch der Wind will uns an diesem Tag unbedingt begleiten. Auf den vielen Kilometern, die er an diesem Tag abläuft, wird er vor allem eines aufsammeln müssen: Zigarettenstummel. „Wenn ich für jede Zigarette fünf Cent kriegen würden, wäre ich jetzt schon Millionär“, scherzt der 57-Jährige und greift nach seinem Dreikantschlüssel, um die Klappe eines randvollen Mülleimers zu öffnen. Er zieht den Behälter raus, in die blaue Mülltüte seines Reinigungswagens fallen leere Coffee-to-go-Becher, Tüten von Fastfood-Ketten, Masken, Flaschen und Boxen für Essen zum Mitnehmen. Routine für den Straßenpfleger, der den Job schon seit mehr als einem Jahr macht.

Axel Kleibutenko ist Stadtpflleger in Detmold – der 57-Jährige wohnt seit 1996 in Blomberg.

Jede Mülltone samt Standort ist auf einem Zettel aufgeführt, wenn Kleibutenko diese auf seinem Rundgang geleert hat, wird abgehakt. „Denn es gibt immer wieder Menschen, die bei meinem Chef anrufen und sich über überfüllte Mülleimer beklagen. Dann können wir anhand der Eintragungen nachvollziehen wann der Eimer zuletzt geleert wurde“, erklärt der Stadtpfleger. Normalerweise sind an einem Dienstag, der auch Markttag ist, viele Passanten in der Detmolder Innenstadt unterwegs, corona-bedingt sind es zurzeit deutlich weniger – der Müll ist trotzdem mehr geworden. „Weil die Restaurants und Cafés geschlossen waren und etliche es noch immer sind, bestellen viel mehr Menschen als sonst Gerichte zum Mitnehmen – sei es, weil sie daheim selbst nicht kochen wollen, oder weil sie ihr Lieblingslokal in der Krise unterstützen möchten“, sagt der 57-Jährige. Verzehrt werde das Essen dann oft in benachbarten Parks und auf Plätzen – und dort bringen die Verpackungen die öffentlichen Mülleimer zum Überlaufen. „Es ist ein massiver Anstieg von Verpackungsmüll“, hat der 57-Jährige festgestellt. Trotzdem lande immer noch jede Menge To-go-Müll sonst wo, nur nicht in den Eimern.

Überall Kippen – mühsame Arbeit für die Stadtpfleger.

Seine Route führt zu weiteren Abfalleimern in der Innenstadt – über die Gedenkstätte Ehemalige Synagoge geht’s wieder auf die Lange Straße, der Eimer an einer Selbstbedienungsbäckerei wird geleert, über den Marktplatz führt seine Route zur Anna-Maria-Tintelnot-Twete und zum benachbarten Spielplatz – in sekundenschnelle werden die Eimer geleert. Immer wieder wird er mit „Hallo, Herr Saubermann“ gegrüßt und erwidert die Freundlichkeit mit einem Greifzangen-Wink. In den Mülleimer liegen an diesem Tag ein Regenschirm, volle Babywindeln und ein zerfetzten Schuh – „immer wieder packen die Menschen ihren Privatmüll in die öffentlichen Mülleimer, um die Gebühren für eine größere Abfalltonne zu sparen“, sagt Kleibutenko.

In den städtischen Mülleimern wird auch Hausmüll entsorgt.

Natürlich finde er auch „unerwartete“ Hinterlassenschaften in den Mülltonnen – darunter benutzte Kondome und Damenslips, aber auch Geldbörsen und Handys, die im Fundbüro der Stadt landeten. Am schlimmsten seien Pizzakartons: „Die passen nämlich nirgends rein und den voluminösen Verpackungsmüll zerkleinern die wenigsten.“ Auch benutzte Masken und Gummihandschuhe würden neben die Eimer geworfen oder einfach in den Parks entsorgt. „Die Müllsünder suchen keinen anderen Eimer auf, wenn der nächstgelegene voll ist. Dann wird der Abfall einfach an Ort und Stelle stehengelassen“, sagt der 57-Jährige. Das größte Problem sei die Bequemlichkeit, daher finde er die neue Tatort-Müllkampagne der Stadt sehr gut und wichtig, fügt er hinzu. Nach knapp fünf Kilometern machen wir am Marktplatz eine kurze Pause. Es gibt Kaffee im Pappbecher – zuvor legt er den vollen Müllsack an einem vereinbarten Ort ab, damit ihn die Kollegen später per Auto abholen können.

Nach fünf Kilmetern durch die Detmolder City ist der Müllsack voll und wird ausgetauscht.

Wenn er so sitze und die Marktstände beobachte, erinnere ihn das an seine alte Heimat Tadschikistan, wenn er bei Bauern Zutaten für sein Lieblingsgericht Plow eingekauft habe, sagt Axel Kleibutenko. Wenn seine Mutter das Reisgericht mit Fleisch und Gemüse gekocht habe, seien alle Kinder aus Nachbarschaft gekommen. „Unsere Köpfe waren nur Zentimeter über dem Teller, im Sekundentakt wurde die Reiskörner gelöffelt und keiner hat das Haupt erhoben, bevor das letzte Reiskorn gefuttert war“, erinnert sich der Stadtpfleger, der vor 32 Jahren mit Frau und Kindern aus Tadschikistan nach Deutschland gekommen ist. Ihre ersten Monate Deutschland verbrachten sie in einer Aussiedler-Unterkunft. „Es war schrecklich.“ Mehrere Generationen in einem Zimmer, Dreck, dünne Wände. So hatte er sich ihr künftiges Leben auf dem Flug von Moskau nach Frankfurt am Main nicht vorgestellt. Würde man ihn auslachen, weil er die Sprache nicht konnte? Die Familie außen vor lassen, weil sie die Gepflogenheiten nicht kannte? Seine Freunde hatten ihn ermutigt: „Hast Du ein Glück. In Deutschland kannst Du alles haben, was Du willst. Dort wartet das Paradies.“ Bei der Ankunft drehte sich alles im der neuen Heimat – die nun das mittelhessische Wetzlar sein sollte.

Er hatte in Tadschikistan als Kranführer gearbeitet, doch seine Frau wollte unbedingt ins Land ihrer Vorfahren, in der für die Familie ein neues Leben beginnen sollte. Ein besseres. Besser als jenes, das sie zurückgelassen haben, in Tadschikistan. Wo Menschen sie daran erinnerten, dass sie „Deutsche“ sind – immer mit einem verachtenden Unterton. Und als die Sowjetunion zerfiel, stiegen Großfamilien in Züge und Flugzeuge in Richtung Westen und ließen alles andere zurück. Doch in der fremden, mittelhessischen Heimat, in der die Familie Kleibutenko landete, erinnerten sie die Menschen dann daran, dass sie Russen sind. „Manchmal saß ich in der Wohnung und sehnte mich nach der alten Heimat“, erzählt der 57-Jährige. Natürlich habe er gewusst, dass es eine verklärte Sehnsucht ist, weil er den Bürgerkrieg, die engen Wohnverhältnisse und leeren Regale in der alten Heimat nicht vergessen hat. „Ich wollte nicht zurück. Aber manchmal wollte ich auch nicht hierbleiben. Um seinen Integrationswillen zu untermauern, wechselt er den Vornamen – aus Juri wird Axel: „Ich habe mich für Axel entschieden, weil es der Name meines Deutschlehrers war“, schmunzelt er. Aber viele seiner Bekannten und Kumpels nennen ihn bis heute Juri. „Sie fremdeln etwas mit Axel. So wie ich am Anfang“, sagt er lachend.

„Ich dreh bei Wind und Wetter meine 15-Kilometer-Touren und spare die Kosten fürs Fitnessstudio.“

Axel Kleibutenko, Stadtpfleger.

1996 werden die Zelte in Hessen abgebrochen, es folgt der Umzug nach Lippe, weil in Blomberg Bekannte und Freunde leben. „Es war eine richtige Entscheidung, hier ist es schön und wir fühlten uns sehr schnell heimisch“, erinnert sich Kleibutenko. Doch die Freude währt nicht lange. Bei seiner Frau wird Leukämie diagnostiziert. Sie verliert den Kampf gegen den Blutkrebs im Jahr 2003. „Es hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich stand da alleine mit drei minderjährigen Söhnen, die natürlich ihre Mutter sehr vermisst haben“, sagt der 57-Jährige mit gesenktem Blick, legt seine Baseballkappe ab und nimmt einen Schluck Kaffee. Redepause.
Er sucht Arbeit, findet keine feste Stelle als Kranführer – heuert bei einer Zeitfirma an. „Ich habe alle Arbeiten angenommen, um meine Familie über Wasser zu halten“, sagt er. 16 Jahre stellt er kleinen, mittelständischen und großen Unternehmen in Lippe seine Arbeitskraft zur Verfügung, doch eine Festanstellung ist nicht drin. „Erst hier bei der Stadt Detmold hat es im April dieses Jahres geklappt mit einer 75-Prozent-Stelle“, freut sich der achtfache Opa. Er habe auch eine neue Liebe gefunden und im vergangenen Jahr wieder geheiratet. Seine drei Söhne hätten sich prächtig entwickelt, er sei achtfacher Opa und auch der Job als Straßenpfleger mache ihm großen Spaß, weil er tolle Kollegen und auch einen noch tolleren Chef in Nuno Ferreira habe, dem er vertraue und an seiner Seite wisse. „Ich drehe bei Wind und Wetter meine 15-Kilometer-Touren und spare die Kosten fürs Fitnessstudio“, sagt Axel. Er schaut auf die Uhr – wir beenden das Treffen, weil er noch einen Großteil seiner Runde noch vor sich hat. Die Pappbecher werden ordnungsgemäß entsorgt, er verabschiedet sich und nur paar Sekunden später steht schon wieder, packt die Greifzange aus, um Kippen aufzulesen.
Fotos: Bernhard Preuss

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