Die Frage nach seinem Meisterstück beantwortet Schneidermeister Frank Walter: „Ich musste einen Anzug und Frack schneidern.“ Doch eigentlich findet er die Frage unpassend. „Jedes Stück muss ein Meisterstück sein“, sagt der 76-jährige, nach eigenen Angaben der letzte Maßschneider in Detmold und ganz Lippe. Zum Treffen trägt er ein grün-rot-weiß kariertes Hemd, eine Jeans: „Das ist meine Arbeitskleidung“, sagt der Detmolder mit dem markanten Schnauzer. Ein bisschen erinnert mich der 76-Jährige an meinen Mathelehrer. Wäre da nicht das Maßband um seinen Hals, das erahnen lassen, dass die einzigen Kurvendiskussionen, auf die er sich einlässt, die mit seinen Kunden sind.

Dabei hat die Arbeit eines Maßschneiders sehr viel mit Zahlen und Formeln zu tun. „Das Geheimnis eines perfekt sitzenden Anzugs, der Königsdisziplin der Herrenschneiderei, beginnt mit dem richtigen Maßnehmen“, betont Walter. Aus den fünf Hauptmaßen – Körpergröße, Oberweite, Unterweite, Gesäßweite, Ärmellänge – sowie diversen Ergänzungs- und Kontrollmaßen könne ein Schneider viel ableiten: ein Viertel der Körpergröße entspreche zum Beispiel in etwa der Rückenlänge.
„Es gibt in diesem Handwerk keine festen Formeln, dafür sind die Menschen und ihre Körper zu verschieden.“
Frank Walter, Schneidermeister aus Detmold
„Wie ein Maler oder Bildhauer weiß ein Schneider um die Gesetzmäßigkeiten, die harmonischen Proportionen zugrunde liegen“, sagt Walter, der seit 61 Jahren Anzüge, Hosen, Smokings, Fracks für Herren, aber auch Beinbekleidung und Röcke für Damen schneidert. Und wie jeder Künstler teile er den menschlichen Körper in acht Kopflängen, so dass der Kopf die Ausgangsbasis bilde für die Längen und Breitenverhältnisse des menschlichen Körpers. „Es gibt in diesem Handwerk keine festen Formeln, dafür sind die Menschen und ihre Körper zu verschieden, doch mit Geometrie hat es sehr viel zu tun. Und mit Vertrauen“, sagt der Schneidermeister.
Beim Maßnehmen – häufig die erste Gelegenheit, bei der Frank Walter seine Kunden trifft – kommt er den Menschen sehr nah. „Ich muss sie dazu bringen, ehrlich zu sein, ihnen sagen, dass sie den Bauch nicht einziehen, sondern rausstrecken sollen“, sagt Walter. Ihn zu verstecken, sei dann sein Job. Dabei komme der Brustpartie eine zentrale Bedeutung zu, für die Architektur eines Sakkos sei sie ungemein wichtig. Sie verleihe dem Träger breite Schultern und eine betonte Brust, selbst wenn die Statur das vielleicht nicht unbedingt hergebe. „Das ist alte Handwerkskunst gepaart mit Kennerblick. So haben schon die alten Meister gearbeitet,“ meint Walter.

Dazu zählte auch sein verstorbener Vater Willi, der 1953 die Maßschneiderei an der Krummen Straße eröffnete und seinem Sohn Frank die Kunst der Herrenkleidermacherei lehrte. „Nach der Hauptschule 1960, im Alter von 15 Jahren, wusste ich, dass ich Schneider werden will und ging bei meinen Vater in die Lehre“, erinnert er sich. Damals sei es ein florierendes Geschäft gewesen, gemeinsam mit seinem Vater und drei Angestellten habe er die Herren in Detmold und Umgebung eingekleidet. „Ein Maßanzug zu Hochzeiten, Taufen oder Beerdigungen gehörte damals zum guten Ton“, erinnert sich Walter. Nach drei Jahren samt Gesellenprüfung zieht es ihn mit 18 Jahren in die weite Welt: „Ich wollte mal raus aus Lippe und was sehen.“ Er landet in Kampen auf der Insel Sylt. „Hier waren im Sommer die Schönen, Reichen und Mächtigen der Republik. Ich habe sogar dem inzwischen verstorbenen millionenschweren Playboy Gunter Sachs einen Anzug geschneidert“, kramt Walter in seine Erinnerungen. Der Unternehmens-Erbe habe mit seiner damaligen Ehefrau Brigitte Bardot wilde Partys auf dem Eiland gefeiert.

In den Wintermonaten heuerte er im schweizerischen Skiort Davos-Klosters an, um für die Wohlhabenden maßgeschneiderte Skianzüge und -hosen zu kreieren – unter seinen Kunden auch die 2004 verstorbene französische Schriftstellerin und Bestseller-Autoin Françoise Sagan. „An ihrer Skihose habe ich echt lange gesessen, doch am Ende hat alles gepasst“, erinnert sich Walter.
Doch nach zwei Jahren Promi-Schneiderei auf Sylt und in der Schweiz sei er wieder ins beschauliche OWL zurückgekehrt, seine Meisterprüfung bei einem befreundeten Herrenschneider in Herford abgelegt und Anfang der 70er-Jahre sogar an diversen Maßschneider-Wettbewerben teilgenommen und seine Entwürfe – als Mannequin im eigenen Auftrag – einfach selbst präsentiert. „Die Anzüge, die ich dort getragen haben, waren damals der letzte Schrei und kamen sehr gut an“, lacht Walter und zeigt auf die schwarz-weiß Bilder in cooler James-Bond-Pose, die heute noch im Atelier hängen.

1975 im Alter von 30 Jahren übernimmt er die Maßschneiderei seines Vater in der Residenzstadt. Seit dem scheint die Zeit in dem kleinen Maß-Atelier an der Krummen Straße stehen geblieben zu sein. Es ist nicht viel größer als eine Garage, und drinnen feiern die siebziger Jahre eine Auferstehung. Zwischen Stoffballen, einer Sammlung von alten, verstaubten Bügeleisen, Scheren, einem Ganzkörperspiegel und Katalogen empfängt er seine Kunden. „Wenn ich nicht mehr bin, haben die Entrümpler viel zu tun – ich kann mich eben schwer trennen“, lacht der 76-Jährige, der seit Jahren vergeblich nach einem Nachfolger Ausschau hält. Viele seiner Kunden haben keine Probleme aus dem Stand die Decke zu berühren, an der drei weiße Neonröhren leuchten – die restlichen vier haben ihren Geist aufgegeben. „Als die Handballer des TBV-Handballer zu meinen Kunden gehörten, mussten sie alle im Empfangsbereich mit eingezogenen Köpfen stehen, damit ich Maß nehmen konnte“, erinnert sich der dreifache Vater und vierfache Opa.
Seine eigentliche Arbeit führt er im noch kleineren Nebenraum aus, der sich hinter einem Vorhang verbirgt und für die Kundschaft nicht einsehbar ist. Winkel und Ecken sind dort kaum noch vorhanden, weil alles vollgestopft ist mit Dingen, die er zum Nähen so braucht. Dazu zählt der große Zuschneide- und Bügeltisch, mehrere Nähmaschinen, ein Regal voller Knöpfe und eine riesige Auswahl von bunten Zwirnrollen – mittendrin ein Familienfoto sowie mehrere bunte Kunstwerke seiner Enkelkinder. Daneben die Umkleidekabine – einrichtet mit kleinem Hocker und großem Spiegel.

Meist sind zwei Termine nötig, bis ein Kunde seinen Anzug für mehrere Tausend Euro mit nach Hause nehmen kann. Mehr als 40 Stunden Handarbeit stecken dann in Jackett und Hose. Der Stundensatz liegt bei 50 Euro, hinzu kommen Stoff, Knöpfe und weitere Sonderwünsche – dann kann der Preis schon bei bis zu 5000 Euro liegen. In diesen zwei Wochen verarbeitet Walter ungefähr dreieinhalb Meter Stoff. Dafür sei der Unterschied zu einem Zweiteiler von der Stange so groß wie der zwischen einem Kleinwagen zur S-Klasse, behauptet der Maßschneider. Dies wolle sich hier in Detmold niemand mehr leisten, die Kundschaft finde sich nur noch in Großstädten.

Seit einigen Jahren schneidert er nicht mehr selbst. „Ich nehme Maß, stecke alles ab, entscheide mit dem Kunden über den Stoff und lasse es dann bei befreundeten Nähereien herstellen. Dabei reduzieren sich die Kosten für einen maßgeschneiderten Anzug auf 2500 bis 3500 Euro – je nach Wunsch und Qualität. „Maßanzug bedeutet vor allem, dass du dich darin wohlfühlst“, sagt Walter.
Seine Kundenkartei ist überschaubar – vor allem Stammkunden, deren Maßkarten seit Jahren bei ihm stehen, kommen zu ihm. Der Markt für maßgeschneiderte, handgemachte Kleidung sei klein. Egal wie lange sie hielten, nicht jeder könne sich einen Anzug für einen vierstelligen Betrag oder eine Hose für 400 Euro leisten. Daher hat sich Walter eine Änderungsschneiderei als zweites Standbein aufgebaut – „damit verdiene ich mein Taschengeld“, sagt der 76-Jährige, dem die Immobilie an der Krummen Straße gehört. Leider sei der Beruf auf einem „absterbenden Ast, da keiner die Arbeit eines Schneiders noch zu schätzen weiß“, fügt er hinzu. Doch er glaube an seine Arbeit und deren Wert. „Wer es nicht gesehen hat, versteht häufig nicht, wie viele Arbeitsschritte in einem Kleidungsstück stecken“, betont Walter.
Ob er den Beruf noch einmal ergreifen würde, weiß Frank Walter nicht. Wieder so eine Frage, die er überflüssig findet. Er überlegt kurz. Schulterzucken. Dann sagt er: „Mir macht das Spaß.“ Er mag seine Arbeit und Menschen auch: für einen Plausch legt er Nadel und Zwirn gern mal beiseite und nimmt auf der Bank vor seinem Atelier platz, um mit Freunden und Bekannten zu plauschen.
Fotos: Bernhard Preuss