Einmal, erzählt Alla Vasiljts (31), habe eine junge Mutter einfach den Kopf auf die Plastiktüten, die sie im Zugabteil vor sich getürmt hatte, gelegt und nichts mehr gesagt, mitten im Gespräch. Zuvor hatte die nun Schlafende unter Tränen über Sirenen, Bomben und Todesangst in ukrainischen Großstadt Saporischschja erzählt: „Die Frau konnte einfach nicht mehr. Sie floh vor dem Albtraum, saß im Zug nach Deutschland und war am Ende ihrer Kräfte“, erinnert sich die 31-Jährige. Alla legt ihr ein Kissen unter den Kopf.

Drei Tage nach Kriegsausbruch am 27. Februar sitzt Alla mit ihren beiden Söhnen (neun und zehn Jahre) und der 65-jährigen Mutter im Flüchtlingszug Richtung Westen – gegenüber der Schlafenden. Die 31-jährige hat ihren Friseursalon aufgegeben, zehn Mitarbeiter nach Hause geschickt und hofft nun auf eine friedliche Zukunft in Deutschland – das Ziel der vierköpfigen Familie ist eine Freundin im lippischen Lage. Die Söhne spielen, ihre Mutter weint leise und wimmert, denn die russische Armee hat ihre Heimatstadt in Schutt und Asche gelegt.

Alla versucht tapfer zu sein, obwohl ihr Herz unruhig ist, weil sie ihren Lebensgefährten und Vater der Kinder, Freunde sowie Verwandte und die geliebte Hauskatze in der Ukraine zurücklassen muss. „Heimat sind die Menschen, die mir am Herzen liegen und ich hatte das Gefühl, dass mein Herz vor Verzweiflung gegen die Abteilwände schlägt“, sagt Alla. Sie wischt über ihr Handydisplay und zeigt glückliche Familienschnappschüsse, die zu Beginn des Jahres gemacht wurden. „Es sind Fotos aus einem anderen Leben, ohne Angst, ohne Bomben und sinnlose Zerstörung von Gebäuden und ganzen Straßenzügen“, fügt die zweifache Mutter mit geschlossenen Augen hinzu. Einen Wisch weiter Bilder des Grauens, die ihr Freunde täglich aus der Ukraine schicken – unendliche Schuttberge, zerstörte Hochhäuser, verbrannte Trümmer identifiziert sie als Einkaufszentrum, Schule und Altenheim.
Sie hofft damals auf eine schnelle Rückkehr nach Saporischschja, doch inzwischen sind fast drei Monate vergangenen, der Krieg dauert immer noch an. Bomben fallen, Massengräber werden ausgehoben, Frauen werden vergewaltigt und Kinder sterben.
„Die Kommunikation läuft via Übersetzungsprogramm sowie mit Händen und Füßen.“
Alla Vasiljts, Flüchtlin aus der Ukraine
Ihre erste Anlaufstation in Lage haben Alla und ihre Familie bereits verlassen und sind bei einem deutschen Ehepaar in Detmold untergekommen: „Sie geben uns das Gefühl, dass wir keine Flüchtlinge sind, sie behandeln uns wie Verwandte oder Freunde“. Alla kann paar Worte Englisch, aber kaum Deutsch. Die Kommunikation läuft via Übersetzungsprogramm sowie mit Händen und Füßen.
Ihre Söhne gehen in Detmold zur Schule, ihre Mutter trauert immer noch um den Verlust der Heimat und Alla absolviert derzeit ein Praktikum im Friseursalon „LaSaner“ von Hüseyin Saridag in der Detmolder Innenstadt und soll so schnell wie möglich übernommen werden. „Ich freue mich sehr auf diesen Job. Denn er ist sehr wichtig für meine Familie und mich“, erklärt Alla. Daher wolle sie so schnell wie möglich auf eigenen Beinen stehen, eine Wohnung mieten und dann sollen auch ihr Lebensgefährte und die Katze nachkommen.

Ihr künftiger Arbeitgeber Hüseyin Saridag sucht dringend Arbeitskräfte und zögert nicht lange, als Freunde den Kontakt zu Alla herstellen: „Sie macht ihre Arbeit sehr gut und wir wollen sie gerne übernehmen.Es müssen nur noch ein paar bürokratische Hürden genommen werden.“ Auch Alla ist zufrieden und hat bereits Unterschiede zwischen ukrainischen und deutschen Frisurwünschen festgestellt: „In der Ukraine wollen alle Frauen blond sein und Männer extreme Kurzhaarschnitte. Dauerwelle oder kosmetische Angebote, wie Wimpern oder Augenbrauen färben, wurde auch eher selten nachgefragt“, sagt sie, fährt mit ihren Fingern durch ihre blonden Haare und muss lachen. Sie arbeite sehr gerne im Detmolder Friseursalon – trotz der gegenwärtigen sprachlichen Hürden.“ Doch zum Glück gibt es ihre Kollegin Katharina Kober, sie hat usbekische Wurzeln, spricht russisch und arbeitet Alla, die derzeit einen Deutschsprachkurs absolviert, im Salon ein.

„Alle ukrainischen Teilnehmer des Deutschkurses kommen aus der Mitte der Gesellschaft. Sie hatten in ihrer Heimat gute Arbeitsplätze. Jetzt wissen sie nicht einmal, ob ihre Wohnungen, Häuser noch stehen und ob sie überhaupt zurückkehren können“, sagt Alla. Viele von ihnen bringen die Bilder des Krieges im Kopf mit, fügt die zweifache Mutter hinzu. Sie seien erschüttert, teils traumatisiert. Eine Nation, die vom vermeintlichen Brudervolk angegriffen wird: Das hinterlasse bei vielen eine tiefe Verunsicherung. Zumal, wenn das persönliche Drama nach der Flucht nicht ende. „Einige erfahren hier in Deutschland vom Tod ihrer Söhne, Ehemänner oder Brüder an der Heimatfront im Kampf gegen russische Soldaten. Es sit alles so schrecklich und traurig“, sagt Alla. Ihre Stimme bricht.
Doch sie gebe die Hoffnung nicht auf, dass Vernunft und Menschlichkeit siegten, und sie eventuell irgendwann wieder in einem Zug sitzt, aber diesmal in Richtung Osten, in Richtung Heima einem Herzen, das vor Glück gegen die Abteilwände schlägt.
Fotos: Bernhard Preuss